Der Schutzherr vom Drachensee

Sie war müde und erschöpft von der langen Reise quer durch die Wälder Norwegens. Doch endlich sah sie es durch die grünenden Äste vor sich schimmern: Die Dracheninsel – das erste aktive Nature-Rollenspiel der Welt. Auf der Dracheninsel herrschte eine fast primitive, mittelalterliche Gesellschaftsstruktur und es wurde Wert darauf gelegt, das Spiel so real wie möglich zu gestalten. Das heißt, dass die Bewohner der Dracheninsel ihren zugeordneten Pflichten nachgingen wie in jeder x-beliebigen Stadt, sich an die Regeln hielten und den Ehrenkodex der Dracheninsel („Tu was du willst, aber schade niemandem!“) streng beachteten – ansonsten drohte ein Pranger oder die Disqualifikation. Die Anwohner der Insel durften so lange hier leben, wie sie es konnten und wollten. Und natürlich so lange der Sponsoren-Geldvorrat für dieses außergewöhnliche Projekt reichte.

Raven kämpfte sich tapfer durch das üppige Gestrüpp vor ihr. Die langen Äste zerkratzten ihre Haut und die dornigen Sträucher zerrissen ihre Jeans, doch sie bemerkte es nicht. Die aufkommende Freude ließ sie die Umgebung vergessen. Sie war eine der Auserwählten, die an dem Drachensee-Projekt teilnehmen durften. Erst an dem abseits und geheim gelegenen Ort angekommen, würde sie neue Kleidung bekommen, sowie ihren neuen Namen (der ihr eine neue Identität gewährleistete) und ihre erwählte Pflicht auf der Dracheninsel. Dann würde es keine Raven mehr geben.
Raven, voller gespannter Erwartung, brach durch das Gebüsch auf die Lichtung und blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Es dauerte eine Weile, ehe sich ihre Augen an das strahlende Gelb gewöhnt hatten, nachdem sie einen Monat nur dunkelgrünes Geäst vor Augen gehabt hatte. Sie lächelte, atmete tief durch und schritt entschlossenen auf das große Holztor zu…

Kapitel I – Der Schutzherr vom Drachensee
„Name?“ Der Mann in schwarzer Uniform, der den Eintritt zur Stadt hütete, musterte sie kritisch. „Raven. Spielnummer 2342331.“ Der Soldat sah sie noch einen Moment durchdringend durch die schmale Luke in Augenhöhe, welche sich an der Außenseite des Stadttores befand, an, dann studierte er die Liste in seiner Hand. „Spielnummer 2342331: Raven Moonlight, ansässige Berlinerin, 17 Jahre, Abiturientin und Hobby-Okkultistin.“ Er sah kurz auf und nickte dann zustimmend – mehr zu sich selbst als zu der Jugendlichen vor ihm. „Alles i.O. – Tretet ein, Mylady. Ich freue mich Euch auf der Dracheninsel begrüßen zu dürfen.“ Die Luke schloss sich und Raven vernahm ein lautes Quietschen, als die riesige Holztür aufschwang. Der Soldat, nun freundlich lächelnd, verbeugte sich tief vor ihr. „Der König erwartet Euch sicher schon. Bitte folgt mir.“ Er bedeutete ihr mit einer Geste ihr zu folgen und begab sich zielsicher den steinigen Weg entlang in Richtung Drachensee.
Während sie liefen, besah sich Raven neugierig die neue Welt, die sich ihr gerade eröffnet hatte. Zu beiden Seiten erstreckte sich eine üppige Waldlandschaft mit Bergen und Höhlen, hinter sich wusste sie das kleine Wachhäuschen aus Stein und den Holzwachturm und vor sich sah sie den in der Nachmittagssonne strahlenden Drachensee. Raven schirmte die Augen mit der Hand ab und folgte schweigend dem Soldaten, während sie sich dem See immer mehr näherten. Erst jetzt erkannte Raven, dass direkt vor dem See viele hundert Tipis standen, in der Mitte war ein etwa zehn Meter umfassender kahler Steinkreis -wohl der Marktplatz- und direkt hinter den mit Lederhäuten bespannten Tipis stand es: Das Königshaus des Drachenherrn. Es war einfach atemberaubend. Trotz seiner -im Vergleich zu heutigen Schlössern gesehenen- Schlichtheit, wirkte es überaus majestätisch und einem Regenten angemessen. Der Soldat verschnellerte sein Tempo und Raven sah sich gezwungen dem Mann zu folgen, wenn sie nicht den Anschluss verlieren wollte.

Vor ihnen erstreckte sich bereits das hölzerne Schlosstor, als der Soldat endlich seinen Schritt mäßigte. Er ließ sich zurückfallen und trat neben Raven. „Wie gefällt Euch das Haus des Königs, Mylady?“, fragte er höflich. Raven neigte leicht den Kopf zum Zeichen der Ehrerbietung und meinte mit melodischer Stimme: „Ich sah nie etwas Prachtvolleres als dieses Gebäude, Mylord.“ Der Soldat lächelte warm und zwinkerte ihr zu. „Das glaube ich gern. Nur unter uns: Ihr seid noch ziemlich jung für das Spiel, wie habt Ihr von dem Projekt erfahren?“ Raven erwiderte das Lächeln des Mannes. „Ich habe meine Quellen, Mylord. Vielleicht lasse ich Euch irgendwann daran teilhaben. Doch nun lasst uns gehen. Der König erwartet uns sicher schon.“ Sie lief durch das geöffnete Schlosstor und ließ den verblüfften Soldaten hinter sich. Nun war es an ihm sich zu beeilen, um die Jugendliche einzuholen.

Der Ankündiger stampfte dreimal mit seinem goldenen Stab auf den Boden und sprach mit lauter Stimme: „Lord Quentin, Stadtführer, Soldat des Reiches und Wache des Schutzherrn vom Drachensee, Sohn des Falken und Herr der Doppelaxt.“ Der dumpfe Klang der Schläge verklang und die Tür wurde nach innen von drei Leibdienern des Königs geöffnet. Raven vernahm dies alles mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Sie wurde zusammen mit Lord Quentin hereingerufen und sog laut die Luft ein, als sie den König erblickte. Sie hatte geahnt, dass er eindrucksvoll wirken mochte, doch das überraschte sie. Der König, der zusammen mit seiner Tochter -Prinzessin Samt- auf einem erhöhten Thron saß, gekrönt mit einer goldenen Krone in Form eines gewundenen Drachens, sah sie an. Seine Augen waren die eines Vaters: Begütigend und weise, doch die Autorität seiner Stellung lag genauso in ihnen, wie Strenge und Erfahrung. So -dachte sich Raven- musste König Salomon ausgesehen haben.
Der König winkte sie mit einer gebieterischen Geste seiner rechten Hand zu sich und Raven wurde gewahr, dass er noch ziemlich jung für diese Machtposition war, bestimmt -so schätzte sie- erst Ende Dreißig, Anfang Vierzig. „Sei mir gegrüsst, Mylady Raven. Ich heiße Euch herzlich in meinem Reich willkommen.“ Raven erinnerte sich an die Trainingsstunden, die sie für dieses Projekt über sich ergehen lassen musste, und verbeugte sich mit tiefer Demut. „Ich fühle mich geehrt, an Eurer Seite leben und unter Euch dienen zu dürfen, Mylord.“
Der König lächelte und entblößte dabei seine weißen Zähne. „Erhebt Euch, Mylady. Erhebt Euch bitte. Dies ist Euer erster Tag auf der Dracheninsel, wie fühlt Ihr Euch? Kann ich Euch etwas anbieten?“ Raven erhob sich und neigte leicht den Kopf. „Ich weiß Euer freundliches Angebot zu schätzen, Mylord. Doch ich bedaure, es ablehnen zu müssen. Meine Reise war sehr lang und erschöpfend. Erlaubt Ihr mir mich zurückzuziehen, mein König?“ Der Regent lächelte. „Ach ja, ich vergaß. Ihr seid sicher müde und hungrig. Lasst uns die Formalitäten morgen bei Antritt Atons klären. Und nun erlaubt mir Euch Euren Führer für die nächsten Tage vorzustellen.“ Er schnippte kurz mit der linken Hand und ein Jugendlicher in ihrem Alter trat aus dem Schatten hinter ihm. „Dies,“ er deutete auf den Jungen, „ist Galahad, mein treuer Freund und Gefährte, und Großwesir dieser Insel. Trotz seiner Jugend hat er es zu viel gebracht in meinem Reich. Keinem geringeren würde ich Eure Sicherheit anvertrauen.“ Raven besah sich Galahad genau und kam zu dem Schluss, dass er verdammt gut aussah. Da meint es mein Schicksal wohl gut mit mir… Sie machte einen Knicks und sagte förmlich: „Es ist mir eine Ehre und Freude Euch kennen zu lernen, Mylord Galahad.“ Der junge Großwesir tat es ihr gleich und sagte freundlich: „Ich fühle mich geehrt euch in den ersten paar Tagen auf dieser Insel führen zu dürfen.“ Er beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre rechte Hand. Raven errötete, ohne es verhindern zu können. Närrin, schalt sie sich innerlich. Er ist so nett zu mir, weil es seine Pflicht ist. Das ist alles. Doch sie konnte sich nicht der Gefühle erwehren, die der Junge in ihr auslöste. Sie blickte in seine braunen Rehaugen und glaubte, die Welt stehe still. Als er ihre Hand losließ, hätte sie fast geseufzt.
Raven riss sich zusammen und überspielte ihren Gefühlstumult mit ernster Förmlichkeit. Sie richtete sich an den Regenten, ohne auf sein wissendes Lächeln einzugehen: „Mein König, ich danke Euch für diese Audienz. Und ich danke Euch, Lord Quentin,“ sie drehte sich um und sah in die Falkenaugen des Soldaten, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, „für Eure Hilfe, mich hier zurechtzufinden. Mögen unsere Wege sich demnächst in Freundschaft treffen.“ Der Soldat nickte, verbeugte sich und ging ab. Raven wandte sich ein letztes Mal dem Regenten des Reiches zu. „Ich verabschiede mich, mein König. Luna sei mit Euch.“ Der Drachenherr neigte den Kopf und entließ somit Raven und ihren Führer. Die Audienz war beendet.

Kapitel II – Der Großwesir vom Drachensee
Die schwere Eisentür schloss sich hinter ihnen und Raven und der Junge, den sie als Galahad vorgestellt bekommen hatte, standen draußen. Sie hörte ihn tief ausatmen – so als habe er die Luft angehalten. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Mylord?“ Galahad richtete seinen warmherzigen Rehblick auf sie und lächelte. „Gewiss nicht, Mylady. Seid ohne Sorge. Es ist nur, dass jede Audienz bei unserem Schutzherrn… wie ein Traum ist. Sie erscheint mir so unwirklich, wie die Tatsache, dass ich hier Großwesir wurde.“ Raven zog überrascht die Augenbrauen hoch. Ihr ging es nicht anders. „Verzeiht mit die Frage, Mylord. Aber wie kam es eigentlich zu diesem außergewöhnlichem Werdegang? Ihr, Ihr seid doch erst“ -sie überlegte einen Augenblick- „neunzehn Sommer alt. Oder irre ich da?“ Er musterte sie einen Moment schweigend, dann seufzte er. „Nein Ihr irrt nicht, aber wollt Ihr wirklich davon erfahren, Mylady?“ Raven nickte -vielleicht etwas zu heftig- und Galahad senkte den Blick: „Es ist lange her, seit jemand sich danach erkundigte, Mylady.“ Er lachte kurz auf. „Aber wenn es Euer Wunsch ist, so will ich es Euch erzählen.“
Raven schritt den steinigen Weg zum Marktplatz neben dem jungen Großwesir, während er langsam das Geheimnis seines Werdegangs lüftete. „Gewiss ist Euch nicht entgangen, dass ich etwa euer Alter zähle, Mylady.“ Raven antwortete mit einem Zeichen. Galahad nickte lächelnd. „Ich kam etwa vor 39 Monden hier zur Dracheninsel. Anfangs fühlte ich mich ziemlich allein und ausgeschlossen. Die Menschen hier sind zwar freundlich, doch sie meiden die Neuen – vor allem wenn sie noch jung und unerfahren sind.“ Er hielt inne und sah sie an. Schließlich räusperte sich der Großwesir und fuhr fort: „Zu meiner großen Überraschung nahm sich der König selbst meiner an. Er lehrte mich das Leben hier und half mir in der Phase der Hilflosigkeit, so wie ich Euch jetzt. Ich habe nie erfahren, warum er gerade mich auserwählte, aber es erfüllte mich mit tiefen Stolz.“ Er öffnete den Mund und wollte weiterreden, überlegte es sich jedoch anders, als ihm etwas bewusst wurde, was er zu vergessen gehabt schien. Er fing an zu lachen. „Bei den Göttern, ich muss Euch zu Tode langweilen. Bitte verzeiht mir meine Redsamkeit.“ Raven schüttelte energisch den Kopf mit den braunen Locken. „Nein, Ihr langweilt mich nicht im Geringsten, Mylord. Im Gegenteil. Ich freue mich über unsere Konversation und höre Euch von dem erzählen was war. – Eure Stimme ist so angenehm warm…“ Sie brach ab und errötete. Galahad blieb stehen und sah ihr tief in die grünen Katzenaugen. „Ist das Euer Ernst?“ Raven sammelte all ihren Mut und wandte den Blick nicht ab. „Ja, Mylord.“ Sie hörte ihn leise lachen. „Nun, ich würde mich niemals den Wünschen einer so schönen Lady erwehren.“ Ravens Herz schlug schneller. Meinte er das ernst? Nein, sagte sie sich innerlich. Es ist hier so Etikette, weiter nichts. Sie erwiderte sein Lächeln. „Ich danke Euch.“, hauchte sie und verbannte bewusst alle Gedanken an sein Kompliment aus ihren Gedanken. Aber warum -fragte sie sich nüchtern- hatte er sie so durchdringend angesehen?

„Ich wurde zu meiner Überraschung zur Ausbildung zum Statthalter geschickt.“, griff Galahad den Faden von vorhin auf. „Das war einzigartig – so erzählte man mir. Aber unser König war überzeugt von meinem Können in diesem Bereich. Obwohl er mich erst wenige Monde kannte, so schien er doch instinktiv zu spüren, was mir die richtige Aufgabe schien.“ Raven beobachtete Galahad voller Wärme und wurde sich schmunzelnd seiner vor Hochachtung strahlenden Augen bewusst. Er muss den König wirklich über alles lieben.
„Ja, unser König ist wahrlich ein weiser Mann.“, antwortete sie und neigte leicht den Kopf, um dem Großwesir Ehre zu erweisen. Galahad nickte in Gedanken versunken. „Wahr gesprochen, Mylady. König Lionel hat sich den Beinamen „Großherz“ wahrlich verdient – er ist der Inbegriff der Gutmütigkeit.“ Raven wartete, dass der Großwesir weitersprach, doch er schwieg gedankenverloren. „Verzeiht mir meine Neugierde, Mylord. Doch wie habt Ihr es vom Obersten Statthalterdiener zum Großwesir gebracht?“ Galahad sah sie an und schien sich erst jetzt bewusst zu werden, dass er sich wieder in der Gegenwart befand. „Ich…“ Das laute Läuten einer Triangel unterbrach den Erklärungsversuch des jungen Mannes. Raven sah sich verwundert um. Davon hatte man ihr aber nichts bei den Konferenzen vor ihrer Abreise erzählt.

Kapitel III – Die Köchin
„Was war das?“ Galahad sah sie leicht irritiert an. „Hat man Euch nicht davon unterrichtet, Mylady?“ Raven verneinte. „Das war das Zeichen für das Abendmahl. Die Köchin Serafina läutet es gegen Abend, kurz bevor Aton stirbt und seine Mutter Luna das Firmament besteigt um zu herrschen.“ Er hob seinen Blick gen Himmel. „Bei den Göttern wie die Zeit vergeht! Es ist Abend geworden und ich habe es nicht bemerkt.“ Raven tat es ihm gleich und erkannte, was Galahad meinte.
Die Sonne war bereits untergegangen und hatte dem runden Leib der Mutter Mond Platz gemacht. Über ihnen erstreckte sich die unendliche Weite der Milchstraße, begleitet vom mächtigen Orion und -etwas abseits gelegen- dem funkelnden Herrscher des Himmels: dem Nord- oder Polarstern. „Bei den Göttern, wie schnell die Zeit vergeht. Ist es wirklich schon Zeit fürs Abendmahl? Mir schien als hätte uns bis eben noch die Herrlichkeit Atons erhellt.“ Galahad lachte. „Mir geht es ebenso, Mylady. Deshalb lasst uns schnell zur Gemeindehalle aufbrechen – nur unter uns: Serafina wartet nicht gerne.“ Raven schloss sich Galahads ansteckendem Lachen an und gemeinsam liefen sie zu dem schlichten Steinhaus am Rande des Marktplatzes.
Nun erkannte Raven auch, weshalb Galahad es so eilig gehabt hatte. Kaum waren sie unter dem verwitterten Holztorbogen getreten, kam eine kleine, robuste Frau mit kupferblond schimmernden, im Nacken geknoteten Haaren auf sie zugestürmt. „Aber, aber, meene Herren und Damen – so geht det aber nich. Ich habe bereits det dritte Mal jeläutet, wo habt ihr euch wieder ‚rumgetrieben?“ Raven verschlug es bei dieser -wenn auch charmant- ignoranten Art die Sprache. Wusste sie denn nicht, wen sie vor sich hatte? Doch Galahad lachte nur die Frau mit den vor Wärme geröteten Wangen an. „Keine Sorge, Serafina. Es kommt nicht wieder vor – versprochen.“ „Det will ich och hoffen, Mylord.“, knurrte die Köchin und wandte sich an Raven. „So und wen ham wir da? Det Gesichtchen kenn‘ ich ja noch jar net. Bist de neu, meene Kleene?“ Raven überging das „meene Kleene“ bewusst, und antwortete höflich: „Ja, ich komme eben von unserem werten Schutzherrn. Freut mich sehr Eure Bekanntschaft zu machen, Mylady.“
Die Köchin lachte und fuhr sich mit dem Handrücken über die perlende Stirn. „Aber, aber. Nenn mich bitte Serafina, meen Kind. Wir sind hier nich bei Hofe.“ Sie wischte sich die Hände an der weißen Schürze ab und streckte Raven unkompliziert ihre Hand entgegen. Raven musste über diese Einfachheit lachen und ergriff die hingehaltene Hand Serafinas. Ihr war die Köchin auf den ersten Blick sympathisch. „Mein Name ist…“ -sie zögerte- Was sollte sie sagen? Ihren wirklichen oder ihren Spielnamen? Sicher, meinen Spielnamen., dachte sie unsicher. Doch die rundliche Köchin schüttelte Ravens Hand mütterlich. „Ach,“ meinte sie. „Det Problem kenn‘ ich. Hast je noch gar keenen richtigen Namen, nicht wahr? Ach ist auch keen Problem, nenne ich dich eenfach…“ -sie musterte Raven von oben bis unten, bis ihr Blick an ihrem Hals hängenblieb- „Was für eene wunderschöne Kette, Kleines. Det is eene Rosenblüte net wahr?“ Raven nickte.
Ja, diese Kette besaß sie seit drei Jahren und sie war ihr Talisman – das einzige was sie zur Dracheninsel an persönlichen Gegenständen mitnehmen durfte. „Denn nenn‘ ich dich eenfach „Rosenblüte“ net wahr?“ Raven wiegte bedächtig den Kosenamen auf der Zunge ab. Rosenblüte. Ja, warum nicht? Sie lächelte und meinte: „Ja, der Name gefällt mir Lady… ähm, ich meine Serafina.“ Die Köchin lächelte breit und deutete mit der freien Hand auf eine Holzbank am Ende der Halle. „Jut. Ich denk‘ mal de hast Hunger, net wahr? Siehst so abjemagert os. Bei mir jibt’s det net. So, setzt euch und esst erstmal richtig. Da hinten is noch een Platz frei, Rosenblüte.“

Raven wechselte einen fragenden Blick mit Galahad, aber er nickte ihr aufmunternd zu. „Sehr gern, Serafina. Aber,“ -sie konnte sich diese Frage einfach nicht verkneifen- „isst mein Führer denn nicht mit mir?“ Serafina schaute von Raven zu Galahad und wieder zurück. „Nee, der isst immer bei deen Beamten des Königs und den anderen Statthaltern. Siehst du,“ -sie zeigte auf eine Holztafel nahe des Eingangs- „da. Schreckliche Anjeber, aber was soll’s. Kann fru nix tun. Wenigstens is‘ deen Galahad janz nett. Besucht mich öfter mal hier, wenn ich frei hab‘.“ Raven konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als der junge Großwesir bei dieser Offenbarung errötete. „Du siehst ihn ja gleech wieder, net wahr? Also komm, ich bring‘ dich hin.“ Raven zuckte mit den Schultern. „Also gut.“ Die Köchin nickte und ging voran. Raven sah Galahad an, beugte sich langsam vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Aber ihr bleibt mir noch immer eine Antwort schuldig, wie Ihr Großwesir wurdet. Vergesst das nicht.“ Dann lächelte sie und folgte schnell Serafina, um in dem Gedränge an Menschen nicht den Anschluss zu verlieren. Galahad blieb allein zurück, doch als sie sich auf halber Strecke umdrehte, sah sie ihn lächeln.

Kapitel IV – Der Soldat
Raven betrachtete die vielen Menschen, die sich zum Abendmahl hier zusammengefunden hatten. Sie hatte das Gefühl noch nie so viele Menschen an einem Ort versammelt zu sehen. Jetzt waren sie nur fremde Gesichter ohne Geschichte, doch bald -so hoffte Raven- würden sie Bekannte und Freunde sein.
Viele der Bewohner der Insel nahmen den Neuankömmling gar nicht wahr, nur einige hoben fragend den Blick und musterten kurz die junge Frau, die sich ihnen angeschlossen hatte. Die meisten aber waren zu sehr in ein Gespräch oder das Essen vertieft, um sie überhaupt zu sehen. Serafina hatte inzwischen den Tisch erreicht und bedeutete Raven knapp sich zu setzten. Sie zwinkerte ihr aufmunternd zu und bahnte sich dann ihren Weg zurück zur Küche. Raven sah mit gemischten Gefühlen, auf die Holztafel vor sich. Nun war sie allein. Zu ihrem Glück befanden sich aber nur zwei Personen am Tisch – eine davon war gerade im Begriff zu gehen. Raven atmete tief durch und setzte sich auf den Platz gegenüber dem in schwarz gekleideten Mann. „Mylord.“
Sie nahm den Holzlöffel zur Hand und begann den von Serafina zubereiteten Eintopf zu essen. Obwohl sie großen Hunger hatte, wollte die warme Suppe nur mühsam ihre Speiseröhre passieren. Raven kaute gedankenverloren auf einem Stück Fleisch herum, als der Mann sie ansprach: „Keinen Hunger, Mylady? Es scheint Euch nicht zu munden.“ Raven zuckte zusammen und hob den Blick. Sie verschluckte sich fast vor Überraschung, als sie in die Falkenaugen des Soldaten Lord Quentins blickte. Warum war er ihr vorher nicht aufgefallen? „Lord Quentin, Ihr.. hier?“ Der alte Soldat lachte. „Ja, ich hier. Es scheint Euch zu erstaunen mich hier zu sehen, dachtet Ihr ein Soldat müsse nie essen?“ Raven fing sich wieder und erwiderte sein Lächeln. „Nein, ich dachte ein Sohn des Falken wie Ihr ernähre sich von Mäusen oder Fröschen – und nicht von warmen Eintopf.“ Der Soldat legte lachend den Löffel beiseite und sah Raven an. „Ihr seid eine Lady nach meinem Schlag. Wahrlich das seid Ihr.“ Er hielt sich den Bauch vor Lachen. „Ich und Mäuse essen… das ist wirklich… schon allein diese Vorstellung…“ Er kicherte in sich hinein, das ihm die Tränen kamen.
Dann holte ihn wieder seine innewohnende Verantwortung und Würde ein und er wischte sich mit einer fließenden Handbewegung die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ja, Ihr seid wahrlich etwas Besonderes, Mylady.“ Er lächelte und nahm seinen Löffel zur Hand.
„Warum -wenn die Frage erlaubt ist Mylady- esst Ihr denn alleine?“ Er schaute er sich demonstrativ um. „Ist Euer Führer denn nicht bei Euch?“ „Er war es bis vor kurzem. Serafina erklärte mir, dass er bei den Dienern des Königs essen würde.“ „Was für eine Schande.“ Der Soldat schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie kann er es nur wagen eine schöne junge Lady wie Euch allein zu lassen, nur um bei diesen Angebern zu dinieren? Das ist mir unverständlich.“ Er sah sie fragend an und Raven erkannte, dass er es wirklich nicht verstand. Sie setzte zu einer Antwort an, als etwas, was subtiler war als Gehör, sie inne hielten ließ. Sie fühlte sich beobachtet. Raven suchte den Speisesaal systematisch mit den Augen ab, als sie ihn sah. Galahad sah sie über die Köpfe der Anderen hinweg direkt an und Raven hatte das Gefühl, dass nur noch sie beide auf dieser Welt existierten.
Er fixierte sie fest mit seinen rehbraunen Augen. Für Raven schien es als stehe die Welt für einen Augenblick still. Diese Augen… sie hatte sie schon einmal gesehen – irgendwo, irgendwann, in einem anderen Leben. Aber diese Augen würde sie niemals vergessen. Wieso nur habe ich das Gefühl, dass ich ihn seit Ewigkeiten kenne? Galahad lächelte. Er bewegte die Lippen und Raven hörte so deutlich, als hätte er es gesagt: Geliebte, erinnerst du dich? „Mylady, alles in Ordnung?“ Raven zuckte aus der Trance gerissen zusammen und fühlte sich einen Moment lang völlig orientierungslos. Sie sah Lord Quentin freundlich, aber noch leicht zertreut an. „Ja, ja.. es geht mir gut. Danke.“ Der Soldat musterte sie mit einem Blick der alles sagte und nichts, und folgte ihrem starren Blick zu dem Großwesir. „Ihr kennt ihn?“ Raven lächelte Galahad an und es schien als hätte sie wieder den Grad der Ewigkeit erreicht. „Ja, ich kenne ihn.“, hauchte sie und verlor sich in den endlos braunen Tiefen von Galahads Augen. „Wann habt Ihr ihn kennengelernt?“, hörte sie Lord Quentin wie von weiter Ferne fragen. Nicht in diesem Leben, dachte sie und plötzlich machte es leise, aber unverkennbar „Klick“ in ihrem Kopf. Galahad… Camelot… jetzt verstand sie warum er diesen Namen trug. Der Name eines Menschen ist seine Identität.
Raven neigte leicht den Kopf und etwas in ihr sandte ihrem Gefährten die lautlose Botschaft: Ja Geliebter, ich erinnere mich. „Mylady, was habt Ihr?“ Raven fühlte sich hin- und hergerissen und hatte das Gefühl als würde sie in eine endlose Tiefe fallen. Der Soldat fasste sie hart bei den Schultern. „Mylady, kommt zu Euch!“ Raven fiel und fiel und verlor jedes Zeitgefühl. Langsam färbte sich alles um sie schwarz.

Kapitel V – Die Heilerin
„Lady, hört ihr mich? Hört Ihr mich?“ Die Frauenstimme schien sich ins Unermessliche zu steigern, es war nun vielmehr ein Surren als eine menschliche Stimme. Kenne ich diese Stimme? „Lady!“ Raven roch den starken Duft von Salbei und schlug langsam die Augen auf.
„Den Göttern sei Dank.“ Raven sah verschwommen eine kleine Frau vor sich. Sie sah besorgt aus. „Wie fühlt Ihr Euch?“ Raven versuchte zu sprechen, aber der Kloß in ihrem Hals machte es unmöglich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen und flüsterte: „Wo bin ich?“ Die kleine Frau lächelte erleichtert. „Ich dachte ich hätte Euch verloren, Mylady. Ihr befindet Euch in meiner Hütte. Ich bin Lady Ana, die Heilerin.“ Langsam lichtete sich der Schleier, der auf Ravens Augen lag und sie sah die Frau deutlich vor sich. Sie war um die Dreißig, hatte feuerrote Locken, die unter einem grünen Kopftuch verborgen lagen, und meerblaue Augen, die sie besorgt musterten. Um ihren schlanken Hals wand sich ein indianischer Traumfänger. „Warum bin ich hier, Lady Ana?“, brachte sie mühsam hervor. Sie sollte nicht hier sein, sondern im Speisesaal. Die Heilerin schüttelte langsam den Kopf. „Also könnt Ihr Euch nicht erinnern?“ Raven hob die Hand und antwortete mit einem Zeichen. „Verstehe.“ Sie trat an den Vorhang des Tipis und rief hinaus in die Dunkelheit: „Nella! Hole bitte unseren Gast, ja? Ich muss dringend mit ihr reden.“ Ihr? Raven runzelte die Stirn. Was sollte das alles? Die Heilerin wandte sich wieder ihr zu. „Es tut mir leid, Mylady.“ Sie zuckte entschuldigend die Achseln. „Normalerweise kommt das nicht oft vor. Ihr befandet Euch auf der anderen Seite. Ich verstehe nicht sehr viel davon, da ich nur Heilerin bin. Doch ich weiß, dass es gefährlich enden kann, wenn man nicht ausgebildet ist. Konntet Ihr das schon einmal, Mylady?“ Sie sah, dass Raven nicht verstand und ergänzte: „Ich meine astralreisen.“

Ravens Augen weiteten sich. „Asralreisen?“ Ana nickte. „Ja, Ihr seid – die Götter wissen wie- in die Anderwelt gelangt. Das kommt nicht oft vor, besonders bei uns. Doch ich habe davon gehört, dass die Priesterinnen diese Fähigkeit beherrschen, sich vom Körper zu lösen. Vielleicht seid ihr eine geborene Priesterin der Großen Göttin. Das war ein Omen.“ Sie seufzte und sah Raven durchdringend an. „Doch Ihr habt wahrlich zu viel mitgemacht, als dass ich Euch nun mit Dingen belehre, von denen ich selber kaum etwas verstehe. Ruht Euch aus, Mylady. Serafina sagte mir Ihr heisst Rosenblüte. Ist das wahr?“ Raven nickte. „Solange ich keinen anderen Namen trage.“ Die Heilerin trat an die Liege mit Schafsfellen, auf der Raven lag, und strich ihr sanft über die Wange. „Es ist viel passiert und es ist Euer erster Tag hier. Ruht Euch nun aus, Rosenblüte. Ich kümmere mich um Euch.“ Sie küsste sie auf die Stirn und verließ das Tipi. Doch Raven konnte mit ihrem neuen Bewusstsein hören wie sie dachte: Das arme Mädchen. Ich spüre, dass langsam ihre innere Kraft erwacht. Die Göttin gebe, dass Mutter Morgaine ihr helfen kann, wenn es soweit ist.

Kapitel VI – Die Hohepriesterin
Raven glitt in einen traumlosen Schlaf und erwachte erst, als Aton bereits im Zenit stand und seine Strahlen das Tipi erhellten. Raven blinzelte und streckte sich ausgiebig. Erst jetzt fiel ihr auf, dass was-auch-immer die Heilerin getan hatte, es gewirkt haben musste. Sie fühlte sich frisch und gesund – wie neugeboren und nicht so ermattet und zerschlagen wie gestern. Gestern… es kam ihr vor wie ein Traum. Hatte sie wirklich ihr Bewusstsein vom Körper gelöst?
Da vernahm Raven deutlich die Präsenz einer Person. Sie war so stark, dass Raven fast spürte wie sich die Luft um sie herum verdichtete. Eine Frau trat in den Eingang des Tipis und warf einen langen Schatten ins Innere. Raven merkte, dass die Luft um sie herum zu erzittern schien. Wer ist das? Die Frau betrat das kleine Tipi der Heilerin. Sie trug die dunkelblauen Gewänder einer Priesterin und auf ihrer Stirn -zwischen ihren Brauen- prangte der blaue Halbmond der Großen Göttin. Sie bewegte sich mit dem geübten schwebenden Gang einer Priesterin auf Raven zu. Im Halbdunkel des Tipis wirkte sie wie die Göttin Mutter selbst. „Sei mir gegrüsst, Rosenblüte.“, sagte die Priesterin mit dunkler Stimme.
Raven spürte ein Kribbeln zwischen ihren Brauen -dort wo das Dritte Auge sitzt-, als sie sich leichtfüßig wie eine Feder neben ihr auf den tiefen Holzhocker niederließ. Auch ohne zu fragen, wusste sie, dass das nur die Hohepriesterin Morgaine sein konnte. Niemand sonst hatte eine dermaßen starke, leuchtende Aura. „Mutter Morgaine.“ Lady Morgaine lächelte. „Ich dachte mir, dass du weißt wer ich bin.“ Sie warf mit einer fließenden Bewegung die Kapuze ihres langen Gewandes zurück -damit niemand außer den Eingeweihten das Abbild der Göttin sehen durfte- und sah Raven innig an. „Ich hörte, dass du auf der anderen Seite warst.“ Raven antwortete mit einem zustimmenden Zeichen und die Hohepriesterin fuhr fort: „Bist du dir bewusst, was das bedeutet?“ „Lady Ana sagte mir, dass es nicht oft vorkommt.“ „Das ist richtig. Die Göttin gewährt nicht allen Sterblichen den Zugang zu IHREM Reich.“
„Aber warum gewährte SIE ihn mir?“, fragte Raven und betrachtete die Hohepriesterin. Morgaine hatte lange, rabenschwarze Haare -die sie nach Art der Mutter im Nacken knotete- und ihre Augen waren dunkelbraun und durchdringend wie die eines Habichts. Trotz ihres Alters wirkte sie so jung und anziehend wie die Göttin in ihrem Aspekt als jungfräuliche Jägerin.
Die Hohepriesterin lachte und fixierte Raven mit festem Blick. „Ich kenne dich, Rosenblüte. Ich bin sicher, du weißt bereits, warum SIE dich erwählt hat.“ Raven ging in sich und sprach, ohne zu wissen, das sie sprach, da Das Gesicht durch sie redete -von dem sie niemals geahnt hätte, dass sie es besaß-: „SIE, die SIE alles ist und nichts, erkannte mich als IHRE Dienerin an.“ Morgaine versenkte sich in Ravens Geist und fragte hypnotisch: „Welche Gaben besitzt du meine Tochter in Ewigkeit?“ Ravens Blick wurde starr. „Ich bin eine Dienerin der Göttin, rein wie die ewige Jungfrau. Mein sind die Gaben des Gesichts und die der Seelenlösung, wenn sich das Bewusstsein vom Körper trennt. Ich bin IHRE Tochter wie wir alle IHRE Töchter sind, denn SIE ist die Mutter allen Lebens. Aus IHR kommen wir und zu IHR kehren wir alle zurück.“
Morgaine nickte. Ich habe es gewusst. Die Hohepriesterin drang tiefer in Ravens Bewusstsein und fragte mit weicher, eindringlicher Stimme: „Wo bist du jetzt, meine Tochter?“ Einen Augenblick schwieg Raven und Morgaine musste all ihre -mit Mühe erlernte- Willenskraft aufbringen um still auf ihre Antwort zu warten. Schließlich sprach Raven mit zitternder Stimme: „An einem Ort der Göttin… so rein wie das Feuer… Hier existiert nur die innerste Wahrheit, die die Welt zusammenhält… Ich sehe die Herrlichkeit des Gehörnten am Himmel… Neben mir steht mein Gefährte… der inkarnierte Gott… Um seine Arme schlängeln sich die goldenen Schlangen…“ Morgaine sog vor Überraschung laut die Luft ein. Sie sagte entschlossen mit fester Stimme: „Kehre nun zu mir zurück, meine Tochter. Lass den Fluss an Bildern ziehen und komm zu dir. Atme tief ein… ein… aus. So ist’s gut. Lass dich treiben und finde deinen Weg zu mir zurück.“
Raven blinzelte erstaunt und sah die Hohepriesterin an, als sie diese eben aus dem Boden gewachsen. „Ich… ich habe wohl geträumt, Herrin. Ihr wolltet mir doch sagen warum ich von IHR erwählt wurde.“ Sie hatte alles vergessen, was sie in der göttlichen Trance gesehen hatte. Morgaine bedauerte es diesmal, dass das Mädchen nicht ausgebildet worden war, sodass sie sich an die gerufenen Bilder erinnern konnte. Raven besaß wirklich ein gutes Potenzial als Prophetin der Göttin. „Hör zu, meine Tochter. Du besitzt ein inneres Licht, das nur wenigen zu eigen ist. Ich habe es gesehen. Deine Astralreise ins Reich der Göttin war nur zufällig, weil du nicht daran gewöhnt bist, bewusst deinen Körper zu verlassen. Doch selbst wenn du diese Kraft besitzt, meine Tochter, so muss es doch einen Auslöser für dieses Wunder gegeben haben. Erinnerst du dich?“ Etwas in Raven veränderte sich und die Erinnerung durchflutete ihren Geist. Erinnerst du dich, meine Geliebte?
Galahad. Er war es gewesen. Er hatte sie in die andere Welt geführt – jetzt fiel es ihr wieder ein. Diese leuchtenden Rehaugen, die sie kannte seit die Welt entstanden war… das Gefühl immer tiefer zu fallen… und schließlich diese schwarze Leere. „Es war Galahad, der Großwesir des Königs.“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich erinnere mich daran, dass er mich beobachtete und als ich ihn ansah, hatte ich plötzlich das Gefühl, die Welt stehe still. Es war als tauche ich in die Ewigkeit und er stand an meiner Seite. Mein Freund, mein Gefährte, mein König.“ Raven wurde sich des bohrenden Blickes Morgaines bewusst und hielt inne. „Was habt Ihr, Herrin?“ Die Hohepriesterin nahm Ravens Hand und ein Energiestoß flutete durch ihren Körper. Magnetismus… die universelle Lebenskraft.
Raven schloss die Augen und ließ sich in dem Gefühl vollkommener Freiheit friedlich treiben, als Morgaine plötzlich und ohne Vorankündigung ihre Hand losließ. Sie öffnete die Augen und sah in die weisen Habichtaugen der Herrin. „Was ist, Mutter?“ Morgaine presste die Lippen zusammen und Raven hatte plötzlich eine Ahnung davon, wie streng die Herrin sein konnte, wenn sie es musste. „Wie lange kennst du Galahad schon, meine Tochter?“ „Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, doch ich glaube seit gestern – jedenfalls in diesem Leben.“ Morgaine nickte. „Ich habe schon lange gespürt, dass es eine Erschütterung der Macht gibt, doch bis heute wusste ich nicht woher sie kam und von wem sie verursacht wurde. Jetzt weiß ich es.“ Sie richtete ihren durchdringenden Blick unvermittelt auf Raven. „Hat dir Galahad erzählt, weshalb er Großwesir geworden ist?“ Raven zuckte zusammen, als habe man sie geschlagen. „Er… er hat es versucht, doch dann…“ Die Hohepriesterin unterband mit einer knappen Geste die Antwort des Mädchens.
„Er besitzt Das Gesicht, genauso wie du. Doch in ihm fließt das Feenblut nicht unverdünnt und so zeigt sich Das Gesicht bei ihm in voller Blüte – nicht verzerrt. Er hätte ein großer Prophet der Göttin werden können, doch er entschied sich gegen das ihm vorbestimmte Schicksal.“ Raven traute ihren Ohren nicht. Konnte das wahr sein? „Ja es ist wahr,“ bestätigte die Hohepriesterin ihren Gedanken und sprach weiter: „Er träumte oft von seiner Gefährtin in jedem neuen Leben,“ -Morgaine hielt inne und ihr Blick richtete sich unvermittelt auf Raven- „doch so lange er auch auf sie wartete – sie kam nicht zu ihm und aus Zorn über die Grausamkeit der Göttin, verweigerte er sich IHRER und sagte sich von der Priesternschaft los. Aber die Göttin ist nicht grausam, SIE ist die unendliche Weisheit. Galahad verstand nicht, dass die Zeit der Vereinigung noch nicht gekommen war. SIE tut nichts ohne Grund – und ebenso verweigerte SIE ihm auch nicht ohne Grund die ewige Gefährtin. Doch für Galahad war es einfacher die Schuld auf die Göttin zu schieben als sich dessen bewusst zu werden, was nicht sein sollte. Noch nicht. Er lief vor sich selbst davon und wurde Großwesir des Königs. Er hat nie wieder seine innere Kraft genutzt – bis heute.“ Raven hörte sprachlos zu. Das kann doch nicht wahr sein! „Ihr… ihr glaubt ich bin seine ewige Gefährtin.“, stellte sie schließlich fest und wurde sich dessen erst bewusst, als sie ihre eigenen Worte vernahm.
Morgaine lächelte sie fast mütterlich an. „Ich glaube es nicht, ich weiß es.“

Kapitel VII – Die Prinzessin vom Drachensee
Raven schlief unruhig. Sie träumte…
Eine lachende Hohepriesterin verfolgt sie, deutet auf sie und ruft: „Seht, da ist die Kleine die Schuld hat am Wahnsinn des Großvesirs. Sie hat ihn verlassen.“ Und dann kommt Galahad und mustert sie mit unendlich traurigen Augen, aus denen das pure Leid spricht. „Warum hast du mich verlassen, Geliebte?“ Raven will rufen: „Aber ich bin doch hier, Geliebter. Ich bin bei dir.“, doch sie kann es nicht. Ihr Mund ist zugenäht. König Lionel geht kopfschüttelnd an ihr vorbei, während er Galahad die Hand auf die Schulter legt und begütigend spricht: „Komm mein Junge, vergiss sie und das was sie dir angetan hat.“ Der König führt Galahad mit sich fort und Raven steht allein da. „Komm zurück, ich bin doch hier Geliebter. Hier bei dir siehst du es nicht? Galahad!“ Raven will schreien und hinter ihm her rennen, doch ihre Beine versinken im Boden und ihr Mund ist mit einem goldenen Faden verschlossen. Sie wehrt sich mit aller Kraft, doch sie versinkt -ohne es verhindern zu können- langsam im Nichts. Und über allem tönt das laute Lachen der Hohepriesterin, die ruft: „Seht, da ist die Kleine die Schuld hat am Wahnsinn des Großwesirs. Sie hat ihn verlassen.“ … Raven erwachte mit einem Schrei. Sie atmete heftig aus und sah sich in der beschaulichen Hütte der Heilerin um. Einen Moment wusste sie nicht, wo sie war.
Da vernahm sie das Singen einer weichen Frauenstimme und Ana erschien im Eingang des Tipis. „Aton sei mit Euch.“, wünschte sie Raven fröhlich einen guten Morgen und trat tänzelnd herein. Raven wurde gewahr, dass es die Heilerin gewesen war, die sie singen gehört hatte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie bemerkte, dass sie sich wieder in der Realität befand – in dem Tipi der Heilerin, auf der Drachensee-Insel, gemeinsam mit der summenden Frau vor sich. Es war nur ein Traum.
„Aton sei auch mit Euch.“, erwiderte Raven den Gruß und streckte sich ausgiebig, während Ana den geflochtenen Korb mit Kräutern zu Boden stellte, den sie bis eben noch unter dem Arm getragen hatte. „Habt Ihr friedlich geruht, Mylady? Wenn ich nicht irre, hörte ich Euch eben schreien.“ Die Heilerin trat an die Liege mit Schafsfellen und strich Raven mütterlich über’s Haar. „Ich hoffe es gibt keinen Grund mir Sorgen zu machen, Rosenblüte.“ Raven musste über diese Fürsorge lächeln. „Nein, ich habe nur schlecht geträumt, Lady Ana. Macht Euch keine Sorgen.“
Die Heilerin fühlte ihren Puls und nickte zufrieden. „Ihr habt Euch über Nacht erholt, Mylady. Das ist ein gutes Zeichen. Ich bin sicher, bald könnt Ihr das Bett wieder verlassen.“ Raven schielte an Ana vorbei auf den Stand der Sonne. „Wie spät ist es, Lady Ana, wisst Ihr das? Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Wenn nichts dagegen spricht, würde ich heute schon nach draußen unter die Herrlichkeit Atons.“ Die Heilerin musterte sie kritisch. „Nun, darüber wollte ich sowieso mit Euch reden. Eben traf ich auf einen Boten des Königs. Er lässt Euch zu sich rufen, da Ihr noch die Formalitäten in Bezug auf Eure neue Identität zu klären habt.“ Raven grinste innerlich. Ihre Gebete waren erhört worden. „Aber was ist denn mit Euch, Lady Ana? Habt Ihr etwas dagegen?“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, bei dem Gedanken an das eventuelle Verbot der Heilerin, sich an den Hof des Königs zu begeben. Ana untersuchte ihre Pupillen und erhob sich schließlich seufzend. „Leider wird mir wohl keine Entschuldigung einfallen, um Euch noch länger hier zu behalten – auch wenn ich es wünschte.“ Sie hob den Blick und ergriff liebevoll Ravens Hand. „Aber -bei den Göttern- es behagt mir gar nicht, Euch in diesem Zustand allein nach draußen zu schicken, das könnt Ihr mir glauben!“ Raven drückte zärtlich Anas Hand. „Ich verspreche Euch bei der Großen Göttin, dass ich auf mich Acht geben werde.“ Die Heilerin nickte und Raven lächelte dankbar. Die Erlaubnis war erteilt.

Diesmal stampfte der Ankündiger nicht mit seinem Goldstab auf den Boden und kündigte die Anwesenheit Ravens an. Die Burg schien merkwürdig still und verlassen.
Raven wurde nur von einem Dienstboten des Königs zur großen Palasttür des Thronsaals gebracht. Er verbeugte sich vor ihr und verschwand. Was ist denn heute los? Warum sind alle so in Eile? Raven schüttelte den Kopf und wandte sich zu der großen, mit Blattgold verzierten Tür. Sie wartete, dass man sie hereinrief, doch nichts geschah. Raven kam das alles mehr als verdächtig vor. Wo waren all die Bediensteten des Königs?
Sie wollte eben den Arm heben um höflich anzuklopfen, als sie eine Stimme im Inneren des Thronsaals vernahm. „Kommt nur herein, Mylady. Ich erwarte Euch schon.“ Raven öffnete die Tür und trat ein. Im Thronsaal herrschte vollkommene Stille; bis auf die Prinzessin war er menschenleer. Sie saß, mit dem Gesicht zu ihr gewandt, in der Mitte des Thronsaals, kurz vor den Stufen des Königsthrons. Vor ihr befand sich ein kleiner Eichentisch, auf dem ein Schachbrett stand. Raven räusperte sich und die Prinzessin sah auf. „Seid mir gegrüßt, Lady. Bitte, tretet näher.“ Raven tat wie ihr befohlen und lief zu dem freien Stuhl gegenüber der Prinzessin. „Setzt Euch.“ Sie bedeutete ihr mit einer weichen Bewegung ihrer Hand, sich auf dem Stuhl niederzulassen. „Spielt Ihr Schach?“ Raven nickte. „Ja, meine Prinzessin.“ „Dann lasst uns ein Spiel zusammen spielen.“

„Sicher fragt Ihr Euch, warum mein werter Herr Vater, der Schutzherr vom Drachensee, uns nicht beiwohnt.“ Raven schlug den Bauern der Prinzessin mit dem ihren. „Es ist mir nicht erlaubt darüber nachzudenken, Prinzessin Samt.“ Die Thronerbin lächelte. „Wahrlich, Ihr seid gut erzogen worden in den Umgangsformen des Adels. Doch ich will offen zu Euch sprechen: Mein Vater ist zusammen mit seinen Beamten auf Fuchsjagd. Das ist auch der Grund weshalb das Schloss wie leergefegt wirkt.“ Raven schaute vom Schachbrett auf. „Wenn die Frage erlaubt ist: Warum begleitet Ihr denn nicht Euren werten Herr Vater, meine Prinzessin?“ Das Lächeln der jungen Frau gefror zu Eis. „Nun, ich denke das müsstet Ihr wissen, Lady. Ich bin eine Frau. Und für Frauen geziemt sich eine Fuchsjagd wie die heutige nicht.“

Raven war sprachlos vor Überraschung. „Aber,“ stotterte sie. „Ihr, Ihr seid doch von königlichem Geblüt. Wer könnte Euch das verweigern, meine Prinzessin?“ Prinzessin Samt verlagerte ihren Springer auf F3 und meinte fast gleichmütig: „Ach, Mylady. Ihr wisst doch, dass es seit jeher das Schicksal einer Frau ist, daheim zu warten und Heim und Kinder zu hüten. Sie ist zuständig fürs Nähen, Spinnen, Waschen und Kochen – sie überwacht den Haushalt oder sie weiht ihr Leben den Göttern. Nur Männer wollen jagen und kämpfen.“ Raven konnte nicht glauben, was die Frau vor ihr da sagte. „Gefällt Es Euch etwa, wie Vieh in einen Käfig eingesperrt zu sein?“, stieß Raven leidenschaftlich hervor. Ihre Stimme zitterte vor Zorn.
Die Prinzessin hob den Blick mit den veilchenblauen Augen und meinte naiv: „Mylady, es ist nur rechtens so. Wir Frauen haben Sünde auf uns geladen und sind es nicht wert die Aufgaben der Männer zu übernehmen. Denn wie weissagt die Bibel so schön: Es war eine Frau mit Namen Eva, die der Welt die Sünde brachte.“ Ravens Brauen bildeten ein unheilverkündendes V. „Ihr glaubt doch nicht wirklich, was Ihr da sagt!“, erzürnte sie sich. „Das ist doch Schwachsinn. Warum sollten Frauen unterbemittelt gegenüber den Männern sein? Wir sind es schließlich die den Menschen das Leben schenken – wir sind die irdische Göttin. Wer außer uns könnte in der Lage sein, Ordnung in das Leben zu bringen?“
Prinzessin Samt hielt sich vor Entsetzen übers Ravens Aussage den Mund mit den kirschroten Lippen. In diesem Moment wirkte sie so rein und unschuldig wie die Jungfrau Maria, nur dass die kluge Madonna wahrscheinlich eingesehen hätte, dass das was Samt für die Wahrheit hielt, nichts als Unsinn war. Schnell schlug sie ein Kreuz. „Mylady, das ist Gotteslästerung. Wie könnt Ihr das sagen? Allein Christus, der Herr kann die Welt retten, nicht Eure heidnischen und sündigen Frauen!“ Raven unterdrückte nur mit Mühe das Wutkribbeln in ihrer Magengegend. Sie wusste, wenn sie ihm jetzt nachgab, würde sie es ewig bereuen. „Prinzessin, versteht doch,“ -sagte sie eindringlich, doch mit Schärfe- „ich will Euch nicht angreifen. Aber seht Ihr denn nicht, dass das was ihr für gerecht erachtet nur bloße Ausflüchtungen sind, um uns zu unterdrücken? Versteht Ihr das nicht?“ Die Ältere musterte sie, als hätte Raven den Verstand verloren.

Die rabenschwarzen, von der Sonne glänzenden Haare der Prinzessin fielen in sanften Wellen auf ihre schmalen Schultern. Ihre veilchenblauen Augen waren vor Entsetzen geweitet und auf ihren blassen Wangen bildete sich allmählich eine gesunde Zornesröte. Nein, -sagte sich Raven bitter- die Prinzessin versteht es nicht. Noch einen Moment lang betrachtete Samt sie voller Abscheu und mit einer Spur Verachtung, dann ließ sie plötzlich den Kopf sinken und sprach mit tonloser Stimme: „Ihr habt Recht, Lady Raven. Ihr seid einfach zu scharfsinnig für eine Frau. Ich habe mich selbst belogen.“ Erst jetzt fiel Raven auf, dass die Prinzessin sie bei ihrem richtigen Namen genannt hatte und sie sah verwundert auf. „Was habt Ihr, meine Prinzessin?“ Ravens Stimme klang nicht mehr wütend, sondern besorgt.
Samt lächelte traurig. „Mylady, denkt ihr nicht, dass auch ich gerne mit den Männer ausreiten und Abenteuer erleben würde? Das auch ich davon träume, nicht mehr eingesperrt zu sein und als bloße Trophäe für das Volk zu fungieren?“ Die Prinzessin seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Denkt ihr ich weiß nicht, wie es um uns steht? Ich bin nicht blind, Mylady. Und auch wenn es so scheinen mag, ich scheue mich nicht meinen Verstand zu gebrauchen. Doch was sollen wir tun, Raven? Was?“ Raven war im ersten Moment sprachlos. Nie hätte sie erwartet, dass sich hinter der Fassade der treuherzigen und unschuldigen Prinzessin, eine junge Frau mit Mut zum Denken verbarg, die sich ihrer Lage bewusst und voller Verzweifelung war, weil sich das Schicksal nicht von heute auf morgen ändern ließ. Sie hat eine Rolle gespielt – so wie ich bald. Raven lächelte voller Wärme, vergass alle Regeln des Spiels und ergriff liebevoll und tröstend die Hand der Prinzessin. „Meine Prinzessin. Zusammen werden wir einen Ausweg finden. Doch vergesst nie wer ihr seid und verliert nicht Euer Vertrauen in Gott.“ Samt sah sie an und ihrem Blick lagen Trauer, Verzweiflung, Liebe und Pein. „Ihr seid wahrlich eine Revolutionärin, Raven und besitzt ein hitziges Gemüt gepaart mit einem scharfen Verstand. Doch ich fürchte, Euch wird es in dieser partiarchatischen Welt genauso ergehen wie mir.“
Raven drückte zärtlich die kleine Hand der Prinzessin. „Wenn ich nur halb so stark werde wie Ihr es bereits seid, meine Prinzessin, dann wäre ich auf ewig dankbar. Ihr seid eine wahre Kämpferin der Frauen und glaubt mir, eines Tages werdet Ihr die Autorität erhalten, die Euch zusteht…“ Samt lächelte und erwiderte den Griff der Jüngeren. „Die Göttin gebe, dass eure Prophezeihung sich erfüllt, Mylady.“

Die Prinzessin lächelte und wandte sich wieder dem Schachbrett vor sich zu. „Und nun erzählt mir, Lady: Was wollt Ihr später einmal bei uns lernen? Habt Ihr Euch schon zu einer Entscheidung durchgerungen?“ Auch Raven richtete ihren durchdringenden Blick wieder auf die Karos des Schachbrettes. „Nun, ich hätte da eine Idee. Doch zuerst möchte ich Euch noch etwas zur Priesternschaft der Göttin fragen.“ Samt schlug Ravens Läufer mit ihrer Königin. „Ihr könnt mich fragen was ihr wollt.“ „Sind Männer bei der Priesternschaft zugelassen?“ Die Prinzessin schüttelte leicht den Kopf. „Nein, nur Frauen dürfen sich dem Dienst der Göttin weihen. Die einzige Ausnahme bilden Propheten der Großen Göttin -Männer die durch Geburt Das Gesicht besitzen- oder Inkarnationen des Gehörnten. Doch das kommt nur sehr selten vor. Vielleicht einmal in vier Wintersonnenwenden.“ Raven bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken. Propheten der Göttin… auch Galahad hätte eine Stimme der Mutter werden können. Warum hast du dich nur der allmächtigen Göttin verweigert, Galahad?
„Und wie genau funktioniert die Ausbildung zur Priesterin, Herrin? Wird jede Frau darin unterrichtet?“ Samt lächelte nachsichtig und bedrohte Ravens König mit ihrer Königin. Schnell konterte Raven mit einer Rochade, während die Prinzessin antwortete: „An sich erhält jede Frau bei uns die Gelegenheit sich den Göttern zu weihen, doch nur wenige führen ihre Ausbildung auch zu Ende. Viele erhalten eine Einführung in das Leben einer Priesterin und wissen sich danach mit kleineren Zauber- oder Bannsprüchen zu helfen. Nur einige wenige entscheiden sich dazu, nach der Grundausbildung die Prüfung zur Priesterin abzulegen, und als Dienerin der Göttin bei der Priesternschaft zu verweilen.“ „Habt ihr das Gelübde abgelegt, meine Prinzessin?“ Samt verneinte. „Das konnte und wollte ich nicht. Eine Dienerin der Göttin zu sein erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Verantwortung, ich fühlte mich damals nicht dazu berufen. Die Hohepriesterin Morgaine,“ -bei diesem Namen erfasste Raven eine eisiger Schauer- „erzählte uns einmal, jede Frau merke, wenn die Göttin IHRE Hand auf sie legt. Nun, ich wurde nicht von IHR berührt. Und ich glaube das war auch gut so.“ Sie lachte leise. „Fühlt ihr Euch etwa als Priesterin, Mylady?“ Raven ging in sich. Fühle ich mich als Priesterin?

„Ich glaube es wäre das Richtige für mich.“, sagte Raven nach einer Weile. „Würdet Ihr dem zustimmen?“ Die Prinzessin richtete ihren blassblauen Blick auf sie. „Was immer Ihr wollt, soll Euer sein. Wenigstens jetzt habt Ihr noch die Möglichkeit über Euer Leben selbst zu bestimmen, also trefft Eure Wahl. Wenn dies Euer Wunsch ist, soll es so sein.“ Raven neigte den Kopf und schlug den Springer der Prinzessin mit ihrem Läufer. „Wenn dem so ist, meine Prinzessin, dann soll es so sein.“ Samt entfuhr ein leiser Enttäuschungsseufzer als Raven ihren Springer schlug. „Kluger Spielzug, Mylady. Dann gäbe es nur noch eines zu klären: Wie soll Euer künftiger Name lauten?“ Raven dachte eine Weile nach und meinte schließlich mit fester Stimme: „Robin, meine Prinzessin. Ich möchte künftig den Namen Robin tragen.“ Die Prinzessin nickte zustimmend. „Ja, Robin ist wahrlich ein passender Name für Euch. Also soll es so sein. Morgen bei Antritt Atons wird Eure neue Identität bei der Zeremonie vom Schwert publik gemacht.“ Ihr Lächeln verschwand als Raven ihren König bedrohte. „Ihr werdet es doch nicht wagen und…?“, meinte sie spielerisch und tat beleidigt. Raven sah vom Spielbrett auf und lächelte die Schneewittchen-Prinzessin herausfordernd und voller Genugtuung an. Sie wusste, sie hatte in ihr eine Freundin fürs Leben gefunden. „Doch. Schachmatt.“

Kapitel VIII – Das Versprechen
Als Raven endlich das Schloss des Schutzherrn vom Drachensee verließ, ging bereits die Sonne unter und tauchte die Landschaft in ein rot-goldenes Licht.
Raven blieb stehen und genoss diesen atemberaubenden Anblick. Völlig in Gedanken versunken, bemerkte sie Galahad erst, als er sie leicht an der Schulter berührte. „Mylady, wie geht es Euch?“ Raven zuckte zusammen und sah Galahad in der Dämmerung an. „Galahad! Wie schön Euch zu sehen.“ Der Großwesir lächelte. „Begleitet Ihr mich ein Stück?“ Ravens Herz schlug schneller. „Sehr gern.“

Galahad führte sie zielsicher den Weg am Drachensee entlang. „Ich habe gehört, dass Ihr das Bewusstsein verloren habt.“, bemerkte er leise. „Ich… ich wollte fragen, ob es Euch nun besser geht.“ Sein Blick suchte den ihren. „Seid ohne Sorge. Ich bin wohlauf.“ Raven bemerkte trotz der Dunkelheit seinen verwirrten Gesichtsausdruck. „Was habt Ihr, Mylord?“ Galahad zuckte bei dieser formellen Anrede unwillkürlich zusammen. „Ich…“ Ihn versagte die Stimme. Raven blieb stehen und stellte sich demonstrativ vor ihn. „Sagt mir die Wahrheit. Bitte.“
„Wenn das so einfach wäre…“ Sie konnte sein gequältes Lächeln in der Finsternis nur erahnen. „Bitte setzt Euch. Ich will es versuchen.“
Raven ließ sich auf einem stumpfen Baumstamm nieder, während der Großwesir links neben ihr Platz nahm. Der Baum war so zerlöchert und hohl, dass er gezwungen war, so dicht neben ihr zu sitzen, dass sich ihre Schultern berührten. Raven machte diese Nähe fast benommen. Ihn so nah neben sich zu wissen, seinen Duft einzuatmen und seinen gleichmäßigen Atem zu spüren… Raven fühlte sich in diesem Moment einfach glücklich.
„Ich… ich weiß, dass es meine Schuld war was Euch passiert ist.“, flüsterte Galahad so leise, dass Raven sich vorbeugen musste um ihn überhaupt zu verstehen. „Ich weiß auch nicht wie es dazu kommen konnte. Es schien als sei ich nicht mehr ich. Etwas in mir trieb mich einfach dazu Euren Blick zu suchen… und als Ihr mich ansaht, da… da war es als stehe die Welt still. Als wären wir nicht mehr auf dieser Welt… Ich hatte das Gefühl Euch schon seit Ewigkeiten zu kennen und in diesem Moment wurde mir meine Vergangenheit bewusst.“ Er verstummte, unfähig seine Gefühle in Worte zu fassen, und sah sie innig an. „Ihr seid meine Vergangenheit.“ Raven rang um die richtigen Worte, doch sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
Sie atmete tief ein und strich ihm zärtlich mit ihrer linken Hand über die Wange. Er lächelte voller Wärme und schloss die Augen. „Ihr seid zu mir zurückgekehrt, meine Gefährtin.“ Es war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Doch Raven hörte die Zärtlichkeit und Liebe, die darin lag. Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. „Schhh. Sag nichts.“ Ihre Stimme zitterte, ohne dass sie es hätte verhindern können.
Er öffnete die Augen und zog sie in einer fließenden Bewegung an sich. Sie spürte, dass er zitterte. Seine Leidenschaft lodert genauso wie meine. „Raven…“ Mehr vermochte er nicht zu sagen. Doch dieses eine Wort enthielt so viel Leidenschaft und Verlangen, dass es sie fast körperlich schmerzte. „Geliebte.“ Sie lehnte sich an ihn und spürte seine Wärme und hörte den gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Er beugte den Kopf, schob eine Hand unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht und küsste sie. „Ich wünschte dieser Augenblick würde niemals enden.“ Raven spürte einen Stich im Herz als ihr bewusst wurde, dass es so sein musste. Und sie gab sich ihm hin, in der Hoffnung es sei für immer. Zärtlich erwiderte sie seinen Kuss, erforschte mit ihrer Zunge seine Lippen, seinen Mund. Sie hörte wie er stöhnte und seine Muskeln sich anspannten. „Schwöre, dass du mich niemals verlässt, meine Geliebte.“ Sie fuhr federleicht mit ihren Fingern über sein Gesicht und sagte, ehe ihre Lippen sich wieder berührten: „Ich werde immer bei dir bleiben, mein Geliebter.“

Kapitel IX – Die Priesterin
„Wo habt Ihr gesagt sind sie hingegangen?“ Serafina, die robuste Köchin mit der weißen Schürze deutete in Richtung Strand. „Da lang, zum Platz der Springfische. Sie sin vor ner Stunde wech.“ Die Priesterin nickte knapp und hob segnend die Arme. „Ich danke Euch, Lady. Luna sei mit Euch.“ Mit diesem Worten raffte sie ihren blauen Priesterinnengewänder und machte sich eiligst davon. Serafina sah der älteren Priesterin kopfschüttelnd nach. „Nee nee, diese Priesterinnen. Immer in Eele.“ Sie hob die Arme gen Himmel, als sich das Geräusch von klirrendem Ton vernehmen ließ. „Wat zum Teefel… Arwen, Megan! Wat habt ihr wieder jemacht ihr Rotzlöffel!“ Serafina fuhr herum und verschwand fluchend in der Küche.
Flink und geschickt wie eine Wildkatze bahnte sich die Priesterin ihren Weg zum Platz der Springfische am Ufer des Drachensees. Der runde Leib Lunas schimmerte matt und wies ihr mit ihrem Licht den Weg durch den dunklen Wald, während sich die Priesterin Schritt für Schritt ihrem Ziel näherte. Die Göttin gebe, dass ich nicht zu spät komme.

Raven spürte wie Galahads Muskeln sich anspannten, so als habe er etwas gehört, was nicht zu hören war. „Was hast du, Geliebter?“ Er hob den Blick und lauschte angestrengt in Richtung Wald. „Hast du das nicht gehört?“ Raven hielt ebenfalls inne und lauschte. „Nein. Was?“
Galahad erhob sich fluchend, ohne auf Ravens Frage einzugehen und nahm sie schützend in die Arme, so als würde jeden Moment ein Erddrache aus dem Wald kriechen. Raven wurde von Unruhe ergriffen. Was lauert dort im Dunkel des Waldes, dass Galahad solche Anspannung zeigt? Eine Silhouette erschien am Waldrand und stolperte auf den Platz. Raven spürte wie Galahad sich versteifte.
„Mylady Zaida.“ Seine Stimme klang herablassend, fast aggressiv. Der Schatten trat näher ins Mondlicht und Raven erkannte eine Frau Mitte Dreißig, die die Gewänder der Priesterinnen trug. Sie war groß und dünn, besaß graue Augen und kupferblonde, gewellte Haare. Auf ihrer Stirn prangte der blaue Halbmond. Sie ist eine Dienerin der Großen Göttin., dachte Raven überrascht. Doch was tut sie hier und warum zeigt Galahad ihr gegenüber solche Abscheu? Die Priesterin verneigte sich mit einer Spur von Spott. „Mylord Galahad. Ich war auf der Suche nach Euch.“ Galahads Griff um Raven verstärkte sich. „Darf ich auch erfahren warum, Lady Zaida?“ Seine Frage war höflich, sein Tonfall war es nicht. Die Priesterin bedachte ihn mit einem bissigen Lächeln. Es war deutlich zu spüren, wie sehr ihr der Großwesir zuwider war. „Ich soll Euch vom König die Nachricht überbringen, dass die Priesternschaft und ich nun die Führerschaft über Lady Raven übernehmen und Ihr ab sofort als Vertrauenspersonen zur Verfügung stehen. Ihr seid vom Dienst befreit, da sie nun in unserer Stätte beheimatet ist.“ Raven spürte deutlich Galahads aufkeimenden Zorn. Nein, Mutter. So leicht werde ich es Euch nicht machen. Ich habe meine Gefährtin erst gefunden – ich will sie nicht schon wieder verlieren. Raven gehört zu mir.
Der junge Mann unterdrückte ein Fluchen. Beherrscht fragte er: „Wer hat Euch die Erlaubnis erteilt, König Lionel mit dermaßen unwichtigem Geschwätz zu langweilen? Es ist völlig irrelevant wer wann Lady Ravens Führer ist.“ Die Priesterin strahlte. „Gut, dann wird es Euch ja nicht stören uns jetzt diese Aufgabe zu übergeben.“ Galahad kochte vor Wut. „Wer gibt Euch das Recht, einfach darüber zu bestimmen was mit ihr geschieht? Das Ganze hat weitlaufende Konsequenzen, die…“ „…bereits von Mutter Morgaine vorhergesehen worden sind.“, beendete die Priesterin den Satz. „Sie weiß was zu tun ist – Ihr nicht. Wollt Ihr Eure Qualitäten über die der Hohepriesterin stellen?“
Raven spürte Galahads Zittern. Ist es Wut oder die Erkenntnis, dass er hätte dies verhindern können, wenn er Prophet der Göttin geworden wäre? „Ich würde es niemals wagen, die Fähigkeiten der Hohepriesterin Morgaine in Frage zu stellen.“, knurrte er. Doch Raven hörte was er nicht offen ergänzte: Noch nicht.
Die Priesterin mit Namen Zaida lächelte giftig. Hatte auch sie den Gedanken des Großwesirs vernommen? „Ich versichere Euch, dass für Lady Raven gut gesorgt sein wird.“ Sie wandte sich endlich an sie. „Wollt Ihr mit mir kommen, meine Schwester?“ Raven wollte in ihrem ersten Impuls „Nein!“ schreien, doch sie wusste sie würde es nicht tun. „Ich werde Euch sofort begleiten, Mylady. Erlaubt mir, mich noch von meinem Gefährten zu verabschieden.“ Zaida kniff scharf die Augen zusammen, sagte aber nichts und begab sich schweigend zum Waldrand, um dort auf Raven zu warten.
Raven seufzte tief, ehe sie es endlich wagte Galahad in die Augen zu sehen. Sie hatte Zorn erwartet, Enttäuschung oder Gleichgültigkeit – aber nicht diese unendliche Liebe. „Geliebter, ich…“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und brachte sie so zum Schweigen. „Ich möchte deine Entschuldigungen nicht hören, Geliebte. Du kannst nichts dafür.“ Er fuhr ihr sanft über die Wange. „Versprich mir nur, dass du an mich denkst und mich nie vergisst. Ich werde solange auf dich warten. Wenn es sein bis, auch bis an mein Lebensende…“ Raven warf sich in seine Arme und eine Träne rollte über ihre Wange. Womit hatte sie nur diese unendliche Liebe verdient? „Galahad,“ hauchte sie. „Ich könnte dich niemals vergessen – das weißt du. Ich… ich liebe dich.“ „Und ich liebe dich.“ Er küsste sie zärtlich. „Pass auf dich auf.“
Sie nickte, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Weile standen sie noch engumschlungen, dann vernahm Raven das höfliche Räuspern von Zaida. „Es ist Zeit, Herrin.“ Raven glaubte ihr Herz würde zerbrechen, als sie sich endlich von Galahad löste und der Priesterin folgte. Sie drehte sich auf halber Strecke um und sah, wie er sich mit Tränen in den Augen abwandte. „Herrin, wann werde ich ihn wiedersehen?“ Ihre Stimme klang so voller Schmerz und Trauer, dass Zaida unwillkürlich zusammenzuckte. „Ihr seht ihn das letzte Mal morgen bei der Zeremonie vom Schwert, dann…“, sie holte tief Luft und stieß beim Ausatmen nur drei Worte hervor: „In zwei Sommern.“

Kapitel X – Die Mentorin
Die Priesterin hatte Raven schweigend in ihr Tipi gebracht, dass sie seit vier Tagen nicht gesehen hatte. Es unterschied sich in nichts von den anderen Zelten, außer, dass es eine grün gefächerte Umrandung aufwies, die Tipis der anderen Anwohner dagegen rot umrandet waren. Raven wunderte sich darüber, konnte es sich aber nur so erklären, dass das Grün für ihren Status als Neuankömmling stand – Rot im Gegensatz dazu für die langjährigen Bewohner.
Raven hatte sich entkleidet, sich trotz der Müdigkeit höflich von ihrer neuen Führerin Zaida verabschiedet und war eingeschlafen kaum, dass sie das Gänsefedernkissen der Liege berührt hatte.

Am nächsten Morgen erwachte Raven durch das Gewirr von hunderten Stimmen. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft und durch den Spalt in ihrem Tipi fiel bereits das rote Licht der Morgendämmerung. Raven richtete sich gähnend auf. Was ist das nur für ein Tumult da draußen? Gibt es einen Grund zum Feiern? Sie schlug die Lederdecke zur Seite und rieb sich die geröteten Augen. Na, dann wollen wir mal nachschauen, was da draußen so abgeht. Raven schlurfte zur Holztruhe neben dem Eingang und griff zu ihren schwarzen Ledersandalen. Überrascht stellte sie fest, dass die Priesterin ihr bereits ein angemessenes Gewand für die Feierlichkeiten bei Hofe bereitgelegt hatte. Es bestand aus einem schlichten weißen Seidengewand das, schmal geschnitten, um die Hüfte mit einem silbernen Kordelgürtel gebunden wurde. Es war ärmellos und ungefähr wadenlang; um ihren Ausschnitt wand sich ein mit Silberfäden durchsetzter Rüschenkragen. Raven fand es einfach wunderschön.
Sie zog es an und war nicht erstaunt, dass es ihr wie angegossen passte. Die Priesterinnen verstehen es, magische Kleider zu weben. Das Gewand fühlt sich wie eine zweite Haut an, so als sei es ein Teil von mir und nicht nur ein Stück Stoff. Raven drehte ein paar Pirouetten um die eigene Achse und stellte mit kindlicher Faszination fest, dass der Rocksaum sich wie eine Welle um ihre schlanken, langen Beine bewegte. Sie war so beschäftigt damit, sich im Kreis zu drehen und vor Freude zu tanzen, dass sie die ältere Priesterin erst entdeckte, als sie zum Eingang blickte. Erschrocken blieb sie abrupt stehen, als fühle sie sich auf frischer Tat ertappt. „Lady Zaida. Ich…“ „Schon gut, meine Tochter. Ich verstehe das. Ich war genauso wie du, als ich das erste Mal das Gewand der Priesterinnen tragen durfte.“ Ravens Augen wurden groß. „Das Gewand der Priesterinnen?“ Zaida nickte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, sodass sie gleich um Jahre jünger schien. Wie lange -fragte sich Raven- hat diese Frau nicht mehr gelächelt? Die Priesterin trat ein und fuhr gedankenverloren über den schneeweißen Stoff von Ravens Kleid. „Es ist eine Kunst wie nur wenige sie beherrschen.“, sagte sie leise, so als habe sie Angst jedes laut gesprochene Wort könne die Magie des Augenblicks zerstören. „Auch du wirst es lernen wenn du erst bei uns bist, Robin.“
„Woher wisst Ihr, dass ich Robin heiße? … Und woher wusstet ihr, dass ich bei Euch zur Priesterin geweiht werden wollte?“ Die Ältere hob den Blick und flüsterte ebenso leise wie Raven: „Du vergisst wer ich bin, Robin.“ Raven blickte in die grauen Augen der Priesterin und glaubte, sie könnten bis in den letzten Winkel ihrer Seele blicken. Werde ich je etwas vor ihr geheimhalten können? Ihre Augen scheinen direkt auf meine Seele zu blicken. Sie lächelte und erwiderte den Blick Zaidas mit purer Offenheit. Die Priesterin musste unwillkürlich über diese Ehrlichkeit lächeln. Sie begegnet meinem Blick ohne jede Scheu. Manche behaupten, ich könne mit meinen Augen bis auf ihre Seelen schauen… ich wünschte dem wäre so. Ich gebe zu, dieses Mädchen hat etwas an sich was einen in den Bann zieht. Ich frage mich, ob sie je berechenbar handeln wird. Ihre Augen sind so voller Tiefe, man glaubt fast niemand könne je in sie vordringen. Was mag sie wohl gerade denken? Oh Große Göttin, gib, dass sie die Erwartungen die Mutter Morgaine in sie hat, erfüllen kann. „Es scheint, dass du fast fertig für die Zeremonie bist.“, brach Zaida das lange Schweigen. „Wo hast du denn den Silberreif, den ich dir hingelegt habe?“ Raven zuckte zusammen. In der eingetretenen Stille hörte sich die Stimme der Priesterin fast hoch und schrill an. „Ich habe ihn auf meine Liege gelegt. Soll ich ihn ummachen?“ Zaida nickte. „Ja, komm her, ich zeige dir, wie du deine Haare zu flechten hast und wie du den Schmuck anzulegen… ach. Weißt du was? Bringe ihn einfach her. Ich werde dir helfen.“

Raven brachte der Priesterin den schmalen Silberreif und die silbern schimmernden Haarbänder. „Und jetzt?“ Zaida lachte über die Unwissenheit der jungen Frau. „Jetzt setz‘ dich hin… ja, genau vor mich… gut. Den Rest werde ich übernehmen. Gib mir bitte die Bänder.“ Raven reichte der Älteren eines der Bänder. „Warum ist der Schmuck eigentlich ganz in Silber gehalten? Hat das eine bestimmte Bedeutung?“ Zaida begann die braunen Locken von Raven zu flechten, wobei sie die Silberkordeln geschickt in die Haare mit einband. „Hat Ana dir das nicht erzählt?“ Raven verneinte und die Priesterin seufzte. „Nun, die Farbe Silber assoziieren wir seit alten Zeiten mit der Göttin. Es symbolisiert den Mond, die Gezeiten -die Veränderung- und die magischen Kräfte einer jeden Frau. Silber ist die Farbe der Priesterinnen, das Zeichen für Weiblichkeit und die irdische Mondin.“ „Heißt das, Gold ist die Farbe der Sonne und des Gehörnten?“ Zaida staunte über die Scharfsinnigkeit der jungen Frau. „Ja, so ist es. Die Farbe Gold assoziieren wir mit der Sonne, dem Feuer und dem Wachstum. Es wird dem Gehörnten gleichgesetzt und ist Symbol der Priester, der Männlichkeit und des irdischen Helios.“
„Lernt man das unter anderem bei der Priesternschaft? Was die einzelnen Farben für Bedeutungen haben?“ Zaida musste über diese Neugierde lächeln. „Ja, auch. Doch du lernst noch viel mehr. Anfangs erfährst du was die Göttin ist und was der Gehörnte für uns symbolisiert, du lernst die verschiedenen Elemente und ihre Kräfte kennen, erfährst alles über den Wechsel des Mondes und der Jahreszeiten und wir lehren dich die Große Wahrheit – das was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.“ „Wir lernen also alles über die Götter und Gaia -die Erde-, doch lernen wir auch die Kräfte der Natur für uns zu nutzen?“ Zaida flocht das dritte der silbernen Bänder ein. „Ja, du lernst auch die Kräfte von Mutter Erde zu kontrollieren. Doch erst am Ende. Denn wie willst du über etwas herrschen, was du nicht kennst?“
Das leuchtete Raven ein. „Ich habe gehört Ihr könnt das Feuer berühren, ohne Euch zu verbrennen. Stimmt das?“ Zaida griff nach der letzten Haarkordel. „Nun, das ist richtig. Auch du wirst lernen über die Grenzen deines Geistes zu handeln.“ „Aber,“ warf Raven ein; immer darauf bedacht sofort zu fragen, wenn sie etwas nicht verstand. „Wie könnt ihr dieses Wunder vollbringen? Euer Geist steuert doch Euren Körper. Empfindet Ihr gar keinen Schmerz?“ „Nein ich empfinde keinen Schmerz, Schmerz als wahrgenommenes Gefühl kommt allein vom Körperbewusstsein. Wenn du deinen Geist manipulierst, kannst du die Grenzen deines Körpers sprengen. Vergiss nicht: Allein dein Geist währt ewig.“ „Das verstehe ich nicht.“, gab Raven ehrlich zu. Zaida lachte und beugte sich zu Raven hinunter. „Du wirst es noch verstehen. Das verspreche ich dir.“
„So, jetzt dreh‘ dich um und gib mir den Silberreif. Gleich bist du fertig für die Zeremonie.“ Raven reichte der Priesterin den schmalen Reif, mit der Perle und Zaida setzte ihn auf Ravens Stirn. Es war ein Diadem. „Fertig.“

Als Raven das Tipi verließ fühlte sie sich wie eine Prinzessin. Sie wusste zwar nicht, wie genau Zaida sie zurecht gemacht hatte, aber sie ahnte, dass es hervorragend aussehen musste. Wie es einer Priesterin gebührt. War das ihr Gedanke oder der der älteren Priesterin? „Du siehst einfach wunderschön aus, Robin. Wenn ich nicht alt und Priesterin wäre, wäre ich fast neidisch auf dich.“ Raven schenkte der Anderen ein strahlendes Lächeln und Zaida wurde sich bewusst, dass sie es nur darauf angelegt hatte Raven zum Lächeln zu bringen. Oh Große Göttin, ich werde doch nicht in den Bann dieser jungen Frau geraten sein? Raven nahm freundschaftlich Zaidas Hand und gemeinsam traten sie ins helle Licht Atons.
Überall auf dem Marktplatz reihten sich die Bewohner der Dracheninsel. Die Tipis waren mit Blumengirlanden feierlich geschmückt worden, vor dem Gemeindehaus bruzelte über einer Feuerstelle ein gebratenes Schwein am Spieß. Alle Anwohner waren voller Freude, tanzten, lachten und hatten Spaß. Es war ein kunterbunter Haufen fröhlicher, singender Menschen. „Bei den Göttern, Herrin. Was ist denn hier los?“ Raven musterte die Frauen und Männer mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. „Heute ist die Zeremonie vom Schwert.“, erklärte Zaida als sei damit alles gesagt.
„Das ist ein Grund zum Feiern. Sie heißen einen Neuankömmling in der Gemeinde willkommen und nutzen die Gelegenheit um sich einmal ausgiebig zu… sagen wir… betrinken.“ Raven lachte. „Na, wenn das kein Kompliment ist! Lerne ich heute etwa alle Mitglieder der Dracheninsel kennen?“ Zaida musterte Raven und fing an zu lachen. „Du schaust als führe man dich direkt zum Schlachthof, Kleines. Ganz ruhig. Die Feier findet erst nachher statt – zuerst führe ich dich zum Schutzherrn vom Drachensee, der dich offiziell als Mitglied ausruft. Dann ist immernoch Zeit unsere Mitbewohner kennen zu lernen, wenn du willst.“ „Ich glaube ich kann mir niemals so viele Namen merken.“, gestand Raven und ließ ihren Blick über die dicht gedrängten Menschen auf dem Marktplatz schweifen. „Das müssen ja Hunderte sein!“ „Mir ging es genauso, als ich hier ankam. Doch du gewöhnst dich schnell daran, glaube mir. So schwer ist es wirklich nicht. Außerdem,“ -sie zwinkerte ihr aufmunternd zu- „hast du ja zwei Sommer Zeit sie zu lernen.“
Raven lächelte. „Da hast du allerdings Recht.“ Sie drückte leicht ihre Hand. „Gehen wir?“ Zaida nickte. „Gehen wir.“ Raven wandte sich zur Seite als ihr Blick auf eine in Grün gekleidete Frau fiel, deren rote Haare geschickt unter einem Kopftuch verborgen lagen. Selbst aus dieser Entfernung -rund zwanzig Meter- konnte sie den indianischen Traumfänger um ihren Hals erkennen. Ana. Die Frau erkannte sie und winkte ihr lächelnd zu. Raven erwiderte das Lächeln der Heilerin und grüßte zurück, ehe sie zusammen mit Zaida den Pfad zum Schloss des Schutzherrn vom Drachensee beschritt.

Kapitel XI – Die Zeremonie vom Schwert
„So knie nieder, Raven, und empfange den Segen Excaliburs.“ Raven, die vor dem Thron des Königs stand, beugte das Knie und senkte ehrfürchtig den Kopf. Sie glaubte gleich vor Aufregung zu platzen, so nervös war sie.
König Lionel winkte mit einer gebieterischen Geste den Leibdiener herbei und bedeutete ihm, den purpursamtenen Umschlag des Schwertes, in seinen Händen, zu lösen. Der Diener nickte und entfernte schweigend die wertvolle Scheide. Ein Raunen ging durch den Saal, als das Schwert zum Vorschein kam. Auch Raven hob neugierig den Blick und sah erst nur, dass es strahlte und blitzte. Sie musste die Augen mit der Hand abschirmen, um überhaupt etwas zu erkennen.
Das Schwert war wirklich atemberaubend: Die geschwungene Klinge bestand aus blankem Kristall, durchzogen von funkelnden Pyritadern. Der Griff bestand aus Lapislazuli und Aventurin, geschmückt mit kunstvoll gearbeiteten Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden. Dies ist Excalibur., dachte Raven, überwältigt von der Schönheit und Anmut des Schwertes; und sie wurde gewar, dass es noch viel beeindruckender wirkte, als sie es sich je hätte erträumen lassen. Selbst die Herrin vom See konnte in den alten Zeiten Camelots nicht solch ein Schwert besessen haben. Es übertrifft alles, was je von Menschenhand geschmiedet worden ist. Ja, es ist göttlich. Excalibur…

Der König ergriff mit fester Hand das göttliche Schwert und trat auf Raven zu. Sie atmete tief ein, weil sie befürchtete sonst vor Ehrfurcht das Atmen zu vergessen. König Lionel hob die funkelnde Klinge und durch den Kristall brach sich Sonnenlicht darin wie in einem Prisma. Ein leuchtender Regenbogen durchflutete die große Halle. Raven glaubte, zu träumen. Solch‘ ein Wunder konnte einfach nicht wahr sein.
„Willst du nun den heiligen Eid schwören?“, fragte der König sie mit feierlicher Stimme. „Ja, Mylord.“ „So sprich mir nach: >>Ich, Robin, schwöre feierlich und mit freiem Willen, dass ich meine Schwestern und Brüder in dem Projekt beschützen, ihnen helfen und sie verteidigen werde.
Ich werde niemals einen ihrer Namen an Uneingeweihte des Spiels verraten, wenn es nicht ausdrücklich ihr Wunsch ist.
Ich werde die mir selbst erwählte Pflicht mit Freude und Liebe leben und mich stets an die Regeln des Projekts halten.
Ich werde alles geheimhalten, was nicht preisgegeben werden darf.
Ich schwöre dies bei meiner Ehre und dem heiligen Schwert – so sei es.<<„

König Lionel berührte mit der Klinge des Schwertes erst leicht Robins linke und dann ihre rechte Schulter. „Bei dem heiligen Schwert Excalibur – so sei es.“ Die im Halbkreis umstehenden Bewohner der Insel klatschten in die Hände und schrien im Chor: „So sei es!“
Raven wurde von der lächelnden Prinzessin Samt aufgeholfen und sie wurde von jedem Mitglied der Burg liebevoll umarmt mit den Worten „So sei willkommen in unserer Welt“. Jeder gab ihr einen Kuss auf beide Wangen und Robin erfuhr bereits einige der Namen der Burginsassen. Schließlich trat Stille im Thronsaal ein und König Lionel erklärte schlicht: „Das Ritual ist beendet. Lasst uns feiern!“

Kapitel XII – Das Fest
Als Robin die Burg verließ, tönte ihr donnerndes Jubelgeschrei entgegen. Es schien als hätten sich alle Bewohner der Insel vor dem Schloss versammelt, um sie in Empfang zu nehmen. Robin wurde von jung und alt, schön und hässlich, klein und groß freudestrahlend begrüsst. Sie wurde geschubst, umarmt, auf beide Wangen geküsst und beglückwünscht. Hier eine humpelnde Näherin, da ein grinsender Fischer, hier ein kleines Mädchen, da ein alter Mann. Es schien als nähme das Gedränge an Menschen kein Ende. Robin wusste schon bald nicht mehr, wer ihr da eigentlich gerade vorstand. Es war eine wirre Anzahl an Gesichtern, Namen und neuen Sinneseindrücken.

Inzwischen hatten sie den Marktplatz erreicht und Robin stockte der Atem, als sie sah, dass gerade einmal die Hälfte der Bewohner sie vor der Burg begrüsst hatte und der Rest auf dem Platz verharrte, sang und tanzte – je nachdem. Es war ein bunter Haufen feiernder Menschen. Herrje, das müssen Hunderte sein! Ich wusste gar nicht, dass der Drachensee so viele Menschen umfasst. Oh, Hallo! Seid mir gegrüsst… Und da ist ja noch einer. Hallo, freut mich Euch kennenzulernen. Sie lachte fröhlich und ließ sich von dem Strom an Menschen mitziehen, während sie lächelnd nach allen Seiten grüßte.
Als sie endlich die Mitte des Platzes erreicht hatte, brachte ein unverkennbarer lauter Pfiff die tobende Menge zum Schweigen. Eine Gestalt erhob sich über die Massen und sprach mit lauter, deutlicher Stimme: „Seid mir willkommen zur Einweihungsfeier unseres neuen Mitglieds Robin.“ Es war eine weibliche Stimme. Zaida!
„Einige von Euch kennen mich schon. Ich bin Lady Zaida, Aufseherin der Priesternschaft der Großen Göttin und stellvertretende Hohepriesterin des Konvents. Ich wollte nur denjenigen, die es noch nicht wissen, mitteilen, dass Robin morgen bei Antritt Atons der Schwesternschaft beitreten und auch ihr Gelübde ablegen wird.“ An dieser Stelle brach tosender Applaus aus, und Zaida war gezwungen, ihren markerschütternden Pfiff zu wiederholen, um Ruhe in die Menge zu bringen. „Aber, aber. Bitte beruhigt Euch.“ Trotz der Dunkelheit, die Zaidas Gesicht überzog, konnte Robin ihr Lächeln spüren. Sie wurde vom Lagerfeuer mehr schlecht als recht beleuchtet und war nur durch ihre Stimme auszumachen. „Ich wollte Euch nur, im Namen des Schutzherrn vom Drachensee, bitten, nachsichtig mit unserem Neuankömmling zu sein und sie nicht gleich mit neuen Namen und Geschichten zu überschütten… schließlich muss sie morgen früh raus und ihr wollt doch nicht, dass sie unausgeruht ist, oder?“ „Nein!“ Der Ruf dröhnte durch die Reihen, kaum dass die Priesterin ausgesprochen hatte. „Gut, dann bin ich beruhigt. Und nun“, sie wandte sich an den Lautenspieler neben sich. „Musik bitte. Möge das Fest beginnen!“

In den folgenden Stunden wurde das Treiben auf dem Marktplatz immer wilder und ausgelassener. Der Lautenspieler hatte soeben eine fröhliche Polka aufgelegt und Robin, die sich eine kurze Ruhepause gegönnt hatte und nun auf einem Baumstumpf neben der Tanzfläche saß, beobachtete lachend das rege Treiben, während sie sich ihre vom Tanzen schmerzenden Füße rieb.
„So allein, Mylady?“ Diese Stimme kannte sie doch! Robin schmunzelte und hob den Kopf, in Erwartung in die durchdringenden Falkenaugen des Soldaten Quentins zu blicken. „Ja, Mylord. Und das ist auch ganz gut so. Ich glaube wenn ich auch nur einen Schritt laufe, fangen die Blasen an meinen Füßen an zu bluten…“ Sie lachte. „Aber bitte. Setzt Euch doch.“ Sie rückte ein wenig zur Seite und der Soldat ließ sich plumpsend neben ihr nieder. „Ich dachte, ich leiste Euch etwas Gesellschaft, Mylady. Ihr saßt so allein abseits der Menge – fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ich meine,“ -seine Augen wanderten zu ihren nackten Zehen- „einmal abgesehen von Euren Füßen.“ Robin lächelte gequält. „Nun, ist es wirklich so offensichtlich?“ Der Soldat beugte sich zu ihr und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Keine Sorge, Mylady. Außer mir wird niemand Euren Kummer bemerken. Alle sind zu sehr mit Feiern beschäftigt, als auf Euch zu achten. Das verspreche ich Euch. Also: Was quält Euch?“
Robin atmete tief aus und sah Quentin an. „Ich habe über mein zukünftiges Leben nachgedacht, Lord Quentin. Eigentlich müsste ich mich über meine getroffene Entscheidung freuen und voller Zuversicht sein, doch irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte ich doch die falsche Wahl getroffen. Versteht Ihr das, Mylord? Ich meine: Habt Ihr nie bereut Soldat des Königs geworden zu sein?“ „Nein.“, antwortete er fest. Doch dann fügte er ernst hinzu: „Doch ich verstehe trotzdem eure Zweifel. Doch -so leid es mir tut- ich kann Euch dabei nicht helfen. Es ist Euer Leben und Euer Wille. Wenn Ihr unzufrieden seid, fragt Euch doch einmal woran es liegen könnte. Ist es weil Eure Erwartungen sich nicht erfüllt haben? Oder wurzelt Eure Unsicherheit in etwas anderem? Denkt einmal darüber nach, Mylady und dann überlegt, ob ihr wirklich die falsche Wahl getroffen zu haben scheint.“ Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Robin spürte seinen ergrauenden Bart auf ihrem Handrücken. „Ich hoffe von Herzen Ihr findet Euren Frieden – wie auch immer er ausfallen möge.“ Der Soldat erhob sich langsam, nickte ihr aufmunternd zu und verschwand im Gedränge.

Robin blieb allein zurück. Quentin ist wahrlich ein weiser Mann, dachte sie. Doch hat er Recht mit dem, was er sagt? Bin ich nur unsicher, weil sich meine Erwartungen nicht erfüllt haben? Doch was sind meine Erwartungen? Und warum habe ich das Gefühl, dass ich jetzt noch weniger weiß als vorher? Robin stützte den Kopf in die Hände. Oh Herrin, betete sie inbrünstiger, als sie je gebetet hatte. Bitte führe mich und weise mir den richtigen Weg. Ich fühle mich innerlich zerrüttet. Was soll ich nur tun? Bitte hilf mir, Herrin.
Robin schluchzte leise auf. Da spürte sie eine Veränderung in ihrer Wahrnehmung und eine Stimme in ihrem Kopf sagte: Sei unbesorgt, meine Tochter. ICH werde bei dir sein um dir den Weg zu weisen. Vertraue nur auf MICH und ICH werde dich leiten, wann immer du MEINE Hilfe brauchst. Denn ICH bin die Mutter der Welt. „Herrin?“ Robin hob den Blick. „Bist du das?“ Ja, kam die geistige Antwort. ICH bin die, die du „Herrin“ oder „Göttin“ nennst. Robin lächelte mit Tränen in den Augen. Oh Herrin, sag mir: Was soll ich tun? Sie spürte eine leichten Druck auf ihrer Stirn, federleicht, so als habe man sie geküsst. Vertraue auf MICH, so wie du immer auf MICH vertraut hast – und all deine Probleme werden sich lösen. Denn ICH war bei dir seit Anbeginn der Zeit und ICH werde dich ewig begleiten. Robin schloss die Augen und glaubte, von einer unsichtbaren Macht umarmt zu werden. ICH werde dich nie verlassen, MEINE Tochter. Vergiss das nicht. ICH bin bei dir. Eine Träne rollte über Robins Wange, so überwältigt war sie. Sie fühlte sich geliebt in der unendlichen Güte der Göttin. Ja, ich werde niemals allein sein., dachte sie. Denn die unendliche Liebe der Göttin umfasst alles.

„Robin?“ Robin öffnete die Augen und sah in das besorgte Gesicht Anas, die vor ihr hockte. „Alles in Ordnung? Du siehst erschöpft aus.“ Die Heilerin besah sich prüfend Robins Füße. „Scheint als hättest du leichte Brandblasen an den Fußsohlen, aber das ist kein Problem – ich werde dir helfen.“ Sie hob Robins Füße leicht in ihren Schoß und begann, sie sanft zu massieren. „Besser?“ Robin seufzte vor Wonne. „Hmmm. Das ist entspannend, Ana. Du bist ein wahrer Engel. Das tut gut – danke.“ „Tu ich doch gerne.“, entgegnete die Ältere wie selbstverständlich. „Ich weiß noch genau, wie es mir bei meiner Einweihungsfeier ging…“
Sie lächelte und stellte Robins Füße ab. „Das ist doch nicht der einzige Grund, weshalb du so einsam hier verweilst – oder etwa doch?“ Ihre Stimme klang scharf und weich zugleich. „Meine Intuition sagt mir, dass du verwirrt bist. Du hast mit etwas zu kämpfen, auf dass du keine Antwort findest. Stimmt das Robin? Kann ich dir vielleicht helfen? Du weisst, du bist wie eine Tochter für mich. Wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit zu mir kommen. Also: Was ist los?“ Robin öffnete den Mund um zu antworten, schloss ihn aber wieder. Soll ich ihr offenbaren was passiert ist? Doch wie wird sie darauf reagieren? Ana deutete Robins zögerndes Schweigen falsch. „Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.“, meinte die Heilerin freundlich. „Die Göttin behüte: Ich will dich zu nichts zwingen.“
Robin lächelte voller Liebe und Erkenntnis. „Nein Ana. Ich erzähle es dir gern. Jetzt ist alles wieder klar.“ Sie umfasste zärtlich die Hände der Heilerin. „Ich war mir unsicher, doch SIE hat mir den Weg gewiesen und jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.“ Anas Blick veränderte sich von zweifelnd, zu fragend und schließlich zu ahnend. „Du meinst… du hast die Stimme der Göttin gehört, Kleines?“ Sie schrie fast. Robin nickte langsam mit strahlenden Augen und die Heilerin umarmte sie mit einem Freudenschrei. „Das ist ja wunderbar, Robin! Ich freue mich so für dich.“ Sie löste sich aus der Umarmung und hielt die Jüngere etwas von sich, so als wolle sie prüfen, ob Robin auch die Wahrheit sprach. „Und du bist dir sicher, dass…?“ Robin lächelte. „Absolut sicher, Ana.“

Ana, in beiden Händen elfenbeinfarbene Trinkhörner, setzte sich vertrauensvoll neben Robin ans Lagerfeuer. „Hier, ich dachte du hättest vielleicht Durst. Das ist süßer Honigmet. Frisch aus Serafinas Küche.“ Robin nahm das gewundene Horn entgegen und trank dankbar. Ihre trockene Kehle hieß das warme Getränk mehr als willkommen. Der Met schmeckte bitter und hatte einen erdigen Nachgeschmack, doch er war flüssig und stillte den Durst. Mehr verlangte Robin im Moment nicht. „Aaah, das tat gut. Ich war schon völlig ausgedörrt.“
Ana, setzte ebenfalls ihr Horn ab und meinte: „Ja, das kenne ich gut. Mir ging es genauso.“ Sie tauschte ein vertrautes Lächeln mit Robin, ehe sie fortfuhr: „Sag mal, wo ist eigentlich dein Gefährte geblieben? Ich dachte, du wolltest dich noch von ihm verabschieden.“ Robin wirkte traurig. „Ich habe ihn nirgends gefunden, Ana. Ich glaube er blieb der Feier fern, damit der Abschied nicht so schmerzt.“ Sie seufzte und nahm noch einen kräftigen Schluck des Met. „Vielleicht ist es sogar besser so.“
„Aber was redest du denn da, Robin?“, ereiferte sich Ana leidenschaftlich. „Sowas darfst du nicht sagen! Galahad liebt dich mehr als sein Leben. Niemals würde er dich absichtlich verletzen, hörst du? Niemals. Dazu kenne ich ihn zu gut. Ich bin sicher er hatte seine Gründe, weshalb er nicht gekommen ist, um uns beizuwohnen.“ „Ich weiß du hast Recht Ana, aber ich verstehe es trotzdem nicht. Heute ist der letzte Tag an dem wir uns hätten sehen können, ehe ich in die Priesternschaft eintrete. Ist er sich denn nicht bewusst, dass wir uns dann erst zwei Sommer später wiedersehen?“ „Doch.“ Erschrocken fuhr Robin zu der Stimme hinter sich herum. „Galahad!“

Kapitel XIII – Die Liebenden
„Geliebte.“ Der Großwesir öffnete einladend die Arme und Robin erhob sich und warf sich hinein. „Ich dachte du würdest nicht kommen.“ Seine Arme umschlossen Robin fest und er bedeckte ihren Hals mit Küssen. „Das hätte ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen, Robin.“ Ana räusperte sich. „Ich glaube, ich lasse euch beide jetzt besser allein. Robin.“, wandte sie sich direkt an sie. „Ich hole dich morgen bei Antritt Atons und bringe dich zur Schwesternschaft – nur damit du Bescheid weisst… Ich wünsche euch beiden viel Spaß.“ Sie schenkte ihr ein strahlendes Lächeln -das zu deuten Robin unmöglich war-, nickte den beiden aufmunternd zu und zog sich zurück.
„Wollen wir zum Platz der Springfische?“, flüsterte Galahad Robin ins Ohr. Ein wohliger Schauer rann ihr über den Rücken. „Ja.“, hauchte sie und Hand in Hand verließen sie den Platz. Sie bemerkten nicht den missbilligenden Blick Zaidas die, etwas abseits des Marktplatzes stehend, den beiden kopfschüttelnd nachsah, ehe sie im Dunkel des Waldes verschwanden.

„Ich will und kann nicht glauben, dass wir uns erst in zwei Sommern wiedersehen.“, meinte Galahad leise, als sie zusammen auf dem Rücken am Strand des Drachensees lagen, und die tausend Sterne am Firmament beobachteten. „Mir geht es ebenso.“, seufzte Robin. „Ich wünschte du könntest mich begleiten. Wie soll ich das nur ohne dich aushalten?“ Galahad lachte traurig und drehte sich auf die Seite, sodass er ihr in die grünen Katzenaugen schauen konnte. Er seufzte tief. „Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe?“ Sie wandte ihm das Gesicht zu und meinte spielerisch, während sie leicht mit ihrer Fingerkuppe über sein Gesicht fuhr: „Nein. Zeigst du es mir?“
Er hob ihren Finger an seine Lippen und küsste ihn zärtlich. „Reicht das?“, fragte er und in seiner Stimme schwang Leidenschaft mit. Robin schloss genussvoll die Augen. „Nicht ganz.“, entfuhr es ihr. Galahad lächelte und begann, langsam Zentimeter für Zentimeter ihrer Hand zu küssen; erst jeden Finger, dann den Handrücken, das Handgelenk, die Handfläche, den Arm, ihren Ellenbogen, ihre Armbeuge. Robin zitterte vor entbrannter Leidenschaft. Es war als brenne ein unlöschbares Feuer in ihr. Sie stöhnte leise. „Glaubst du mir jetzt, dass ich dich liebe?“, fragte Galahad. Es war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. „Oh, ja.“, hauchte sie. „Und jetzt hör auf zu reden und küss mich endlich, oder ich werde noch verrückt.“
Galahad lachte rau und beugte sich über sie. Zärtlich bedeckte er ihren Hals und ihr Dekolleté mit federleichten Küssen, ehe er ihr Gesicht hob und sie küsste. Für Robin war es wie die Erfüllung. Sie gab sich ihm hin, erwiderte leidenschaftlich seinen Kuss, erforschte seine Lippen mit ihrer Zunge. Sie spürte wie Galahads Muskeln sich anspannten. „Du bringst mich um den Verstand.“, keuchte er und Robin fühlte sein wachsendes Verlangen. Er drängte sich an sie und Robin spürte sein Zittern, als er anfing, sie zu liebkosen. Seine Hände fuhren über ihre Haut, ihre Oberschenkel, ihren Bauch, ihre Brüste. Robin stöhnte leise, während sich Galahad plötzlich verkrampfte – so als sei ihm etwas eingefallen, was er zu vergessen gehabt schien. Robin küsste ihn zärtlich. „Was ist, Liebster? Was hast du?“
Er sah sie an und seinem Blick lagen Liebe und Pein. „Bist du dir eigentlich bewusst, wohin das führen wird, meine Geliebte? Bist du das?“ Robin fuhr leicht über seine Wange. „Ja, das bin ich. Doch wovor fürchtest du dich?“ Er schloss die Augen und Robin fragte sich, weshalb er plötzlich so voller Spannung und Zurückhaltung war. „Habe ich vielleicht etwas falsch gemacht? Hätte ich nicht herkommen sollen?“ Der Schmerz in ihrer Stimme, ließ ihn zusammenzucken. „Oh nein, mein Engel. Sag das nicht! Es ist nur…“ „Nur was?“ Robin ergriff zärtlich seine Hand und küsste sie. Das war zuviel für ihn. Ein Zittern lief über seinen Körper. „Tu das nicht, oder ich… ich kann für nichts mehr garantieren…“ Seine Stimme brach.

Ach, DAS ist es also gewesen. Er hat sich zurückgenommen, um mich nicht zu bedrängen. Wie sehr muss er mich lieben, dass er sein Verlangen zurückhält, um mich nicht zu entehren. Was für ein süßer Dummkopf. Es mag schamlos klingen… doch weiß er denn nicht, dass ich ihn brauche – und dass ich ihn will? Ich möchte ihn spüren – hier und jetzt. Die Göttin gebe, dass er versteht wieviel er mir bedeutet. Wie kann ich es ihm nur begreiflich machen? Robin lächelte. „Aber Schatz, was glaubst du denn worauf ich es die ganze Zeit anlege?“ Kaum hatte sie die Worte gesprochen, küsste er sie so leidenschaftlich, dass es ihr den Atem verschlug. „Ist das wahr, mein Engel? Meinst du das auch ernst?“ Sie nickte, unfähig zu sprechen, und Galahad küsste sie hemmungslos. „Ich liebe dich.“, hauchte er und sie flüsterte, ehe sie in seiner Umarmung versank und sich ihm ganz hingab: „Ich liebe dich auch, mein Schatz. Weiß Gott das tue ich – und das werde ich ewig tun.“

Am nächsten Morgen erwachte Robin, durch eine sanfte Berührung an ihrer Schulter. „Na los Schlafmütze, raus aus den Federn. Es ist Zeit aufzubrechen.“ Blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte in das feixende, vertraute Gesicht von Ana. Wo bin ich? Sie setzte sich gähnend auf und bemerkte, dass sie noch immer am Strand des Drachensees lag und Galahad neben ihr schlief. Katzengleich befreite sie sich aus seiner Umarmung und stand auf. Sie streckte sich ausgiebig und flüsterte, um ihren Freund nicht zu wecken: „Göttin, hat Zaida mich etwa hier entdeckt… so?“ Sie sah an sich hinunter und stellte entsetzt fest, dass ihr Kleid zerknittert und ihre Haare zerzaust waren. Sie hatte einen ihrer Schuhe verloren und ihr Gewand war voller Sand. Sie musste aussehen, als hätte sie…
Ana grinste sie an und flüsterte ebenso leise zurück: „Nein, ich konnte das gerade noch verhindern. Du hattest Glück. Eine Stunde später und sie wäre selbst aufgebrochen, um dich zu suchen.“ „Oh, Ana ich liebe dich.“ Freudestrahlend umarmte sie die Freundin. „Ich verdanke dir mein Leben.“ Der Blick der Heilerin fiel auf den schlafenden Galahad. „Ich nehme an, ihr habt euch gestern noch gut amüsiert.“, stellte sie fest. „Sieht aus, als hättest du ihn ziemlich erschöpft. Er schläft ja wie ein Murmeltier!“ Sie kicherte leise, und Robin errötete. Sie boxte die Ältere unsanft in die Rippen und herrschte sie, fast bissig, an: „Das können wir später klären. Lass uns endlich gehen.“

In ihrem Tipi angekommen, ordnete Robin zuerst ihre Gewänder. Sie sah wirklich ziemlich…. eindeutig aus. Sie fragte sich wirklich, was die Heilerin von ihr gedacht haben mochte, als sie sie am Strand fand. „Okay, Ana. Raus mit der Sprache. Was hast du gedacht, als du mich am Platz der Springfische entdeckt hast? Sah es sehr schlimm aus?“ Die Angesprochene, die am Eingang des Tipis saß und vor sich hin summte, sah auf. „Warum interessiert dich das? Ist dir das so wichtig?“ Robin zuckte die Achseln. „Naja, wäre gut zu wissen.“ Ana schüttelte mütterlich den Kopf. „Aber, aber Robin. Denkst du denn, ich laufe nun durch das ganze Dorf und erzähle es denjenigen die es hören wollen? Ich bitte dich. Ich war auch einmal jung; ich weiß wie das ist – glaube mir.“ „Also behältst du es für dich?“ Ihre Stimme klang fest, aber Ana hörte den ängstlichen Teil darin. „Natürlich! Manchmal denke ich wirklich, du hältst mich für ein gefühlloses Monster.“ „Ach was, nur ab und zu.“ Robin lachte herzlich, als Ana so tat, als sei sie beleidigt. Die Heilerin zog eine Grimasse. „Na schönen Dank auch.“, meinte sie mit ironischem Unterton. „Jetzt weiß ich ja gleich, was du von mir hältst.“ „Ach Ana. Du weisst doch genau, wie ich das gemeint habe.“ Robin lächelte enschuldigend und Ana war entwaffnet. Dieser Frau kann man einfach nicht böse sein. Ihr Humor ist zu ansteckend.
„Na gut, ich vergebe dir – aber nur, weil ich heute gut gelaunt bin. Und jetzt mach, dass du fertig wirst. Du hättest vor einer Stunde bei der Schwesternschaft sein sollen.“ Robins Gesicht verlor alle Farbe. „Was?! Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Wie rasend rannte sie durch das Tipi und schmiss ihre Kleider in den geflochtenen Bastkorb, wobei sie unaufhörlich murmelte: „Das ist ja echt klasse. Da ist es mein erster Tag und ich komme zu spät. Wie peinlich. Ana, warum hast du mir das nicht eher gesagt?“ Ihr Ton klang vorwurfsvoll, doch Ana wusste, dass es nur die Sorge war Mutter Morgaine zu verärgern.
„Als ob das etwas gebracht hätte.“, antwortete sie seelenruhig. „Du hast doch sowieso geschlafen.“ Robin bedachte sie mit einem gestresst bösen Blick. „Dann hättest du mich eben wecken müssen! Es ist deine Pflicht dafür zu sorgen, dass ich nicht wie ein vollkommener Idiot da stehe.“ „Oho?“, entgegenete die Heilerin und tat überrascht. „Seit wann denn das?“ Robin blieb abrupt stehen und stemmte die Hände an die Hüften. „Willst du mich etwa reizen? Du weißt doch, dass ich in Eile bin.“ Sie fuhr fort wie eine Furie, ihren gesamten Besitz in den Korb zu verfrachten. „Also sind deine Bemerkungen völlig fehl am Platz.“, ergänzte sie. „Könntest du mir nicht wenigstens helfen, anstatt da nur grinsend dazusitzen?“ Ana erhob sich schmunzelnd. „Aye, aye, Ma’dam.“, erwiderte sie und salutierte. „Ich stehe zu deinen Diensten. Was kann ich tun?“
Robin konnte nicht umhin, als über diese Einlage herzlich zu lachen. „Ana.“, kicherte sie und legte der Freundin die Hand auf die Schulter. „Du bist einfach die Beste. Aber du bist unverbesserlich. Und jetzt komm, jetzt bin ich auch fertig.“

Kapitel XIV – Die Tempeldienerin
„Folge mir.“, befahl ihr die ältere Priesterin knapp, nachdem Robin den Tempel betreten und sich, nach dem rituellen Eingangsgebet („Ich knie in Demut vor DIR, Große Göttin, die DU die Mutter aller bist, und bitte um DEINEN Segen, ehe ich DEINE heilige Stäte betrete – so sei es.“), von ihrer Freundin Ana verabschiedet hatte. „Ich bringe dich ins Zimmer der Jungfrauen. Dort verweilen unsere Neuankömmlinge.“ Die Priesterin führte sie durch den langen Marmorgang und hielt schließlich vor einer der zahlreichen Türen. Sie klopfte dreimal an und die Holztür, mit dem silbernem Emblem des Erddrachens, wurde von einer jungen Frau Mitte Zwanzig geöffnet. Sie trug, wie Robin sofort auffiel, nicht das schneeweiße Gewand der Priesterinnen, sondern ein azurblaues Kleid mit mystischen schwarzen Symbolen. Es war wie eine Tunika geschnitten, hatte nach außen, trompetenförmig verlaufende Ärmel und wurde um die Taille mit einem goldenen Band geknotet. Es war bodenlang und besaß eine schmale, schwarze Bordüre. Das Kleid war weit geschnitten und mit einem V-Ausschnitt versehen, der gerade das Schlüsselbein erkennen ließ. Es wirkte schlicht und unscheinbar – doch im Vergleich zu den anderen Priesterinnen besaß die Priesterin noch ein an ihrer Seite hängendes sichelförmiges Messer, was Robin verwunderte.
„Dies ist Robin.“, ergriff nun Robins Führerin das Wort und deutete dabei auf sie. „Sie wird ab heute hier nächtigen. Bitte kümmere dich gut um sie, Pendra.“ Die Frau antwortete mit einem Zeichen und verbeugte sich dann galant vor der Priesterin. Dabei fiel Robin auf, dass sie auch nicht den blauen Halbmond auf der Stirn trug, sondern das OM-Zeichen. Wer das wohl sein mag? Sie scheint jedenfalls keine Priesterin zu sein. Doch was tut sie dann hier? Die Priesterin wandte sich an Robin, deren Blick noch immer an Pendra hing. „Pendra ist ab heute deine Tempeldienerin, Robin. Wundere dich nicht, sie steht unter einem Schweigegelübde, denn sie hat ihre Stimme den Göttern geweiht. Deshalb antwortet sie mit Zeichen. Wenn du die Gebärdensprache beherrschst, so kannst du dich mit ihr unterhalten, ansonsten reicht es völlig, ihr deine Wünsche mittzuteilen, wenn du welche hegst… sie mag stumm sein, doch sie ist nicht taub. Das wäre dann alles.“ Ach so ist das! Robin verneigte sich vor der Priesterin, die im Begriff war zu gehen. „Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Mutter. Wann genau werde ich morgen auf Mutter Zaida treffen, um zu erfahren, was meine Aufgaben sein werden?“ „Nach der Sonnenaufgangs-Zeremonie wirst du sie treffen können. Pendra wird dich zu ihr führen. Eine geruhsame Nacht, Robin. Luna sei mit Euch.“ Die Priesterin verneigte sich und ging.

Robin sah ihr noch lange nach, ehe sie sich schließlich an Pendra wandte. „Wirst du zusammen mit mir im Zimmer der Jungfrauen nächtigen, Pendra?“ Die junge Frau mit den dunkelbraunen, zu Schnecken gebundenen Haaren verneinte. „Also schläfst du in einem anderen Zimmer.“, stellte Robin fest und Pendra nickte. „Dann sei bitte so gut und hilf mit beim Auskleiden. Das Kleid liegt enger an als eine zweite Haut.“ Sie lachte und trat ins Zimmer, während Pendra die Tür schloss. Geräuschlos begann sie Robin beim Auskleiden zu helfen. Robin fiel auf, dass sie dabei sehr geschickt vorging. Wie lange sie hier wohl schon als Tempeldienerin dient?
Pendra wirkte zwar noch sehr jung, doch um ihre erdbraunen Augen bildeten sich bereits die ersten Fältchen. Robin überlegte, ob die Tempeldienerin vielleicht zur Strafe als Dienerin verbannt worden war, das würde erklären, warum sie so ausgezehrt wirkte und trotz ihrer Jugend nicht zur Priesterin geweiht worden war. Langsam schüttelte sie den Kopf. Warum mache ich mir darüber Gedanken? Die Wege der Göttin sind unergründlich. „Danke Pendra. Holst du bitte mein Nachthemd?“, sagte sie, als sie sich mit Hilfe der Templerin von dem Priesterinnengewand entkleidet hatte.
Pendra lächelte und neigte den Kopf, während sie zielsicher zu Robins Korb lief, um das Nachtgewand zu Tage zu fördern. Es war ein schlichtes, beigefarbenes Trägerhemd, so wie es alle Jungfrauen trugen. Pendra half Robin, es anzuziehen und bedeutete ihr dann mit einer knappen Geste sich auf das leere Bett zu setzen. Sie holte Robins Holzbürste mit den Borsten aus Wildschweinhaar und begann, Robins Haarbänder zu lösen, um sie zu kämmen. Sie ging dabei so liebevoll und sanft um, als sei Robin ein kleines Mädchen, das bemuttert werden müsse.
Robin kam nicht umhin, über diese Zärtlichkeit zu lächeln, während sie ihren ruhelosen Blick neugierig durch das Gemach schweifen ließ. Das Zimmer der Jungfrauen war ein kleiner, robuster Raum. Direkt gegenüber der Tür befand sich eine Holzstatue der Göttin; sie stellte Diana dar und war mit frischen Frühlingsblumen gekrönt. Daneben -an der rechten Wandseite- stand ihr schlichtes Weidenbett. An der linken Wandseite hing eine roter Wandteppich, der als Almanach diente: Er zeigte die Mond- und Sonnenphasen an, verkündete den Gezeitenwechsel und enthielt wichtige astrologische Konstellationen. Darunter stand eine alte Holztruhe mit verschnörkeltem Griff, zum Aufbewahren ihrer Kleidung. Ansonsten war das Zimmer -bis auf den silbernen, siebenarmigen Kerzenständer links hinter der Tür, der als einzige Lichtquelle fungierte- leer. Es entspricht -so dachte Robin- bestimmt dem Gebetzimmer einer Nonne.

„Pendra, kannst du mir sagen, warum ich die einzige Jungfrau des Hauses bin?“ Pendra, die eben ihre Arbeit beendet hatte, sah sie ernst an. Ich habe gelobt meinen Eid zu halten und meine Stimme den Göttern zu weihen. Beherrscht Ihr denn die Gebärdensprache?, fragte sie mit sich tonlos bewegenden Lippen, wobei sie das Wort „Gebärdensprache“ buchstabierte. Robin lächelte warmherzig und antwortete in der Gebärdensprache. „Ja, sonst würde ich doch nicht fragen.“
Die Augen der Templerin strahlten, als sie erstaunt fragte: Seit wann könnt ihr denn die Sprache der Stummen sprechen? Robin zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Kannst du den Satz noch einmal wiederholen? Ich habe das eine Wort nicht richtig verstanden.“ Pendra nickte und buchstabierte ruhig: Seit wann beherrscht Ihr die Gebärdensprache? „Ah.“ Robin lächelte.
„Ich habe einen Freund, der taubstumm ist. Damals konnte außer seiner Mutter niemand mit ihm kommunizieren, deshalb bat man mich, die Sprache zu lernen, damit ich zur Not als Mittler fungieren konnte.“ Pendra schien verwundert. Warum hat man gerade Euch dazu erwählt, die Sprache zu erlernen? Hatte Euer Freund denn sonst keine Familie? „Doch natürlich. Aber…“
Weiter kam Robin mit ihrer Erklärung nicht, denn die Tür wurde überraschend geöffnet und eine Priesterin sagte streng: „Ich habe hier noch einen Kerzenschein gesehen. Es ist bereits Nachtruhe, meine Schwester. Deshalb würde ich Euch bitten, das Licht zu löschen. Einige der Priesterinnen haben sich auf ihr Morgenritual vorzubereiten und benötigen dringend ihre Ruhe. Also bitte, legt Euch zu Bett.“ Robin errötete leicht und antwortete artig: „Natürlich, Mutter. Ich werde sofort tun, was Ihr mir befohlen habt.“ Robin erhob sich lautlos und schlich zum Kerzenständer, während Pendra sich zum Gehen wandte. Ich wecke Euch morgen bei Antritt Atons. Dann können wir unsere Unterhaltung weiterführen. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht, Robin. Luna sei mit Euch. Robin nickte ihr freundlich zu und erwiderte schnell: „Schlaf gut, Pendra. Luna sei mit dir.“, ehe die Tempeldienerin das Zimmer verließ und die Priesterin die Tür hinter ihr schloss.

Kapitel XV – Die Magie des Augenblicks
Am nächsten Morgen erwachte Robin, ohne zu wissen warum. Sie blinzelte orientierungslos in die Dunkelheit und lauschte einige Augenblicke angestrengt. Da hörte sie einen Gongschlag und wusste plötzlich, dass sie davon aufgewacht war. Was ist das? Sie setzte sich im Bett auf. Das Geräusch kam von draußen, da war sie sich sicher.
Robin warf ihre leichte Stoffdecke zurück und schlüpfte in ihre Ledersandalen. Sie musste der Sache einfach auf den Grund gehen. Leise wie eine Katze auf Samtpfoten, schlich sie durch das dunkle Zimmer und öffnete die schwere Holztür. Sie zuckte zusammen, als es ein quietschendes Geräusch verursachte. Hoffentlich hat das keine gehört…, dachte sie erschrocken und schielte auf den leeren Gang. Keiner zu sehen. Glück gehabt. Sie atmete hörbar aus und zwang sich durch den entstandenen Türspalt.
Wieder war das Geräusch eines Gongschlages zu hören. Robin blieb abrupt stehen und schloss die Augen. Woher kommt dieses Geräusch nur? Sie konzentrierte sich und versuchte, anhand des Nachklangs des Schlages den Entstehungsort zu orten. Dabei hatte sie das Gefühl, als suche sie die Nadel im Heuhaufen. Es ist zu schwer. Der Marmor wirft jedes Geräusch zurück, der Gong scheint aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen… Robin seufzte und öffnete die Augen. Am besten ich lasse es einfach sein. Es nützt ja eh nichts., dachte sie mutlos und wollte in ihr Zimmer zurückkehren, da öffnete sich eine der abzweigenden Türen. Robin hielt mitten in der Bewegung inne und wagte nicht zu atmen. Oh Göttin, was soll ich nur tun? Wie soll ich ihnen erklären, das ich hier herumspioniere, wenn sie mich erwischen?
Robin schloss fest die Augen und betete inbrünstig und mit monotoner Stimme: Sie sieht mich nicht, sie sieht mich nicht. Ich bin wie ein Geist, der ruhelos durch die Gänge schweift. Nicht existent – nur ein Traum zwischen den Welten. Sie sieht mich nicht, sie sieht mich nicht. Ich bin wie ein Geist, der ruhelos durch die Gänge schweift. Nicht existent – nur ein Traum zwischen den Welten. Sie sieht mich nicht, sie sieht mich nicht. Ich bin wie ein Geist, der ruhelos durch die Gänge schweift. Nicht existent – nur ein Traum zwischen den Welten… Sie hörte die Schritte einer Frau und wagte es endlich, wieder die Augen zu öffnen, und ihrem Gegenüber trotzig in die Augen zu sehen. Wenn sie mich schon erwischt, so soll sie wenigstens nicht den Genuss haben, Furcht in meinen Augen zu sehen. Doch irgendwie schien die Priesterin sie gar nicht wahrzunehmen, sie sah durch sie hindurch.
Robin war sich sicher, dass sie sie hätte sehen müssen. Sie stand nur wenige Meter von der Frau entfernt, und hatte nicht die Möglichkeit sich zu verstecken, denn der Flur war schattenlos und ohne Möbel oder Einbuchtungen. Doch die Priesterin lief an ihr vorbei, als sei sie nicht da. Sie würdigte sie weder eines Blickes, noch deutete sie anderweitig an, dass sie Robin überhaupt wahrnahm.
Die Frau schloss einfach die Tür und bewegte sich dann mit dem schwebenden Gang einer Priesterin an Robin vorbei den Gang entlang. Robin folgte ihr mit ihrem Blick und die Frau blieb plötzlich stehen, als fühle sie sich beobachtet. Sie drehte sich langsam um und suchte den Gang systematisch mit den Augen ab, bis ihr Blick auf Robin fiel. Robin wagte nicht zu atmen oder sich zu rühren. Wie zur Salzsäule erstarrt stand sie da und starrte der Frau mit großen Augen entgegen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen und sie glaubte, selbst die Priesterin müsse es hören. Doch die Frau sah einfach durch sie hindurch. Sie kräuselte fragend die Stirrn, zuckte schließlich die Achseln, bog um die Ecke und verschwand.

Robin sah ihr mit großen Augen und offenem Mund hinterher, bis die flinken Schritte der Frau verklungen waren. Das… das ist unmöglich. Sie MUSS mich gesehen haben. Warum reagierte sie nicht? Habe… Robin schluckte. Habe ich es etwa geschafft und einen Unsichtsbarzauber über mich geworfen? Sie erinnerte sich an ihr Gebet und plötzlich überfiel sie unendliche Ruhe. Alle Anspannung wich von ihr. Ja, so musste es sein. War es Können oder Zufall, dass ich dies Wunder vollbringen konnte?
Eine schmale Hand legte sich auf ihre Schulter und Robin zuckte erschrocken zusammen. Sie fluchte leise und drehte sich um. Noch ehe sie in das strenge Gesicht Zaidas blickte, wusste sie, dass es so sein würde. SIE sieht mich und durchschaut meinen Zauber. Robin senkte schuldbewusst den Blick und wagte nicht, der Aufseherin in die Augen zu sehen. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen was sie hier tat, als die Priesterin die Hand hob und Robins Erklärungsversuch damit unterband. „Ich möchte keine Entschuldigungen von dir hören, meine Tochter.“ Robin nickte stumm. „Bist du dir bewusst, was du gerade getan hast?“
Die Stimme der Priesterin klang streng und forderte eine ehrliche Antwort. „Ich habe einen Zauber über mich geworfen, der mich vor den Blicken der Anderen bewahrt, Herrin.“ Zaida nickte kaum sichtbar. „Das ist wahr. Warum hast du das getan? War es Zufall oder Berechnung?“ Ihre Stimme wirkte wie ein Peitschenhieb. Robin zuckte zusammen als habe man sie geschlagen, ehe sie artig antwortete: „Ich weiß es nicht, Herrin. Ehrlich. Ich hatte Angst, dass ich hier ohne Erlaubnis entdeckt werde, und da habe ich gebetet, dass…“ „Dass was?“ „Da habe ich gebetet, dass die Göttin mich vor den Blicken der Anderen bewahrt, so wie ein Geist, der durch die Welten streift.“ Plötzlich klärte sich Zaidas Blick und sie lächelte teilnahmsvoll. „Also war es Zufall.“, folgerte sie und Robin nickte. „Ja, Herrin. ich würde doch niemals… das könnte ich gar nicht… Bitte verzeiht mir.“ Sie fing an zu schluchzen und verbarg das Gesicht in den Händen. Zaidas Blick wurde mild. „Ach, Robin. Bitte weine nicht. Es ist ja alles gut.“ Sie streckte die Arme aus und Robin klammerte sich an sie wie ein Kind, während Zaida ihr mütterlich über die Haare strich. „Es ist alles gut, Robin. Wir werden kein Wort über diesen Vorfall verlieren – das verspreche ich dir.“, flüsterte Zaida mit weicher Stimme. „Und nun, komm. Lass Pendra rufen, damit sie dir das Gesicht wäscht und dich ankleidet. Wenn du fertig bist, führe ich dich herum und wir beginnen mit dem Unterricht.“

„Und das,“ -Zaida deutete auf den Alkoven an der Seite der Halle- „ist unsere Krankenstation. Hier werden die Menschen behandelt, deren Wunden den Grad 4-5 erreicht haben.“ „Was sind das für verschiedene Grade, von denen du ständig redest?“, erkundigte sich Robin, während sie in ihrem Priesterinnengewand neben Zaida durch die große Tempelhalle aus Marmor schritt. „Nun“, begann die Priesterin. „Mit dem ersten Grad, der am häufigsten auftretenden Sorte, bezeichnen wir Verletzungen, so zum Beispiel Kratzer von Tieren, eingerissene Nägel oder auch einfache Krankheiten, wie eine Erkältung. Der zweite Grad steht für kleinere Wunden wie tiefere Schürf- oder Fleischwunden, oder auch Krankheiten mit erhöhter Ansteckungsgefahr, so zum Beispiel eine Mittelohrentzündung. Der dritte Grad umfasst Behandlungswunden, wie entzündete Gelenke -Arthrose oder Arthritis-, gebrochene Rippen oder Krankheiten wie eine Lungenentzündung. Der vierte, auch als grüner Grad bezeichnete Grad, beschreibt bereits Notfallkrankheiten wie Verbrennungen dritten Grades, Herzversagen oder Anfälle von Epillepse. Der letzte, der fünfte oder rote Grad, umfasst alle Langzeitkrankheiten. Das sind zum Beispiel Krebs, Pest oder ähnliche, meist tödlich endende Kraknheiten. Auch Operationen wie eine Transplantation gehören hierzu. Doch der Göttin sei Dank, kommt das nur höchst selten vor.“
„Ich habe gehört, dass unsere Heilerin Lady Ana und ihre Helferinnen dazu ermächtigt sind, alle Krankheiten bis zum dritten Grad zu behandeln. Stimmt das?“ „Ja, das ist wahr. Meist übernimmt sie das Heilen von kleineren Wunden. Wir könnten das zwar genauso gut tun, aber vergiss nicht, dass wir noch andere Verpflichtungen haben. Wenn wir uns nur um das Behandeln von Wunden und Krankheiten kümmern würden, dann würden wir unsere Pflichten als Dienerinnen der Göttin vernachlässigen. Und vergiss nicht wie wir heißen.“ Robin nickte. Das leuchtete ihr ein.
„Doch ist es nicht auch eine Art der Göttin zu dienen, wenn ihr in IHREM Namen Kranke heilt?“ Zaida lächelte über den Scharfsinn der Jüngeren. „Da hast du gewiss Recht. Es wäre eine Weise IHR zu dienen. Deshalb sind einige unserer ausgebildeten Priesterinnen auch Heilerinnen. Doch vergiss nicht, dass du nicht einfach „im Namen der Göttin“ handeln kannst. Manchmal, wenn du ausgebildet und für IHRE Zeichen empfänglich geworden bist, kann es sein, dass SIE sich dir mitteilt und wenn dem so sein sollte, sei in tiefer Demut und Dankbarkeit über das, was dir zuteil wurde. Doch SIE schenkt uns niemals vollends Einblick in IHRE Weisheit und das, was SIE plant. Die Göttin ist unberechenbar und Seite IHRE Wege sind unergründlich. Also denke nicht zu wissen was in IHREM Namen ist.“
Robin senkte durch die Tadelung schuldbewusst den Blick. Wie konnte ich nur glauben, ich würde die Göttin kennen? Wie peinlich, dass gerade meine Mentorin mich auf das aufmerksam machen muss, was ich schon längst hätte wissen müssen. Sie seufzte und sah Zaida fast zweifelnd an. „Ich habe das Gefühl, ich werde es nicht schaffen, Zaida. Meine Ausbildung hat noch nicht einmal begonnen und ich erweise mich bereits als ungeeignet für die Lehren der Großen Wahrheit.“ Die Priesterin schien erstaunt. „Aber wie kommst du denn darauf, Robin?“ „Na wenn du mich schon an das erinnern musst, was ich eigentlich wissen müsste… Wo soll das denn hinführen?“
„Aber Robin, so kenne ich dich ja gar nicht. Seit wann gibst du so schnell auf? Es ist doch nur normal, dass du nicht alles weisst, ehe wir dir dieses Wissen vermitteln. Setz dich nicht unter solchen Erfolgsdruck. Das Mysterium der Göttin ist unendlich schwer zu verstehen und einige von uns werden noch einige Leben brauchen, um es auch nur annäherungsweise zu erkennen. Also bitte lass dich nicht gleich von einem Fehlschlag entmutigen. Du wärst nicht hier, wenn Mutter Morgaine nicht davon überzeugt wäre, dass du es schaffen wirst.“

Robin sah in die strahlenden, grauen Augen ihrer Lehrerin und musste lächeln. Womit habe ich nur solche Freunde verdient? „Ich danke dir, Zaida.“ Die ältere Priesterin erwiderte ihr Lächeln. „Gern geschehen. Ich habe gelobt, alle Frauen als meine Schwestern zu behandeln, ihnen zu helfen und sie zu leiten. Egal ob sie nun jung und unerfahren, oder alt und mürrisch sein mögen.“
„Gehört das zu dem Einweihungsgelöbnis, das jede Jungfrau an ihrem ersten Tag hier ablegen muss?“ Zaida nickte und fuhr fort, ihrer Schülerin den Tempel zu zeigen. „Ja, doch das wirst du heute Abend selbst erfahren… Komm, jetzt. Es gibt noch viel zu sehen. Siehst du,“ -sie zeigte auf eine kleine Holztür, am Ende der Tempelhalle- „Dort empfängt Mutter Morgaine am Tag des Thor die Bittsteller und diejenigen, die Beichte über ihr Leben ablegen wollen.“ Robin fuhr mit ihren Fingern leicht über das glatte Eichenholz der Tür. „Legen auch Priesterinnen ihre Beichte ab?“ Zaida legte den Kopf schief, wie ein Hund. „Das ist zwar noch nicht vorgekommen, doch es steht ihnen frei dies zu tun. Die meisten entscheiden sich aber dafür, still und in Einsamkeit ihre Sünden zu sühnen, indem sie sich der Göttin öffnen und auf ihre Vergebung hoffen. Das heißt, wenn dies einmal vorkommen sollte.“
Robin verstand den Wink und fragte: „Aber warum handhabt es das Volk nicht ebenso?“ Zaida musste über diese Neugierde lächeln. Sie ist wie ein Schwamm, der nur darauf wartet mit dem Wasser der Information gefüllt zu werden. „Weil das Volk eben vereinfachte Bilder der gütigen Göttin braucht, da es SIE in IHRER Komplexität sonst nicht begreifen kann.“ Robin neigte nachdenklich den Kopf, so als müsse sie diese Information erst verarbeiten. „Du meinst es ist wie mit dem Bild vom Stern, der durch seine Größe vereinfacht als Fünfeck dargestellt wird, als geheiligtes Pentagramm?“ Zaida hob überrascht die Augenbrauen. Ihr Scharfsinn ist wirklich beeindruckend. Trotz ihrer Jugend besitzt sie die Klugheit einer Erleuchteten. So wie Mutter Morgaine… „Ja, das ist absolut richtig, Robin. So musst du dir das Ritual der Beichte beim Volk vorstellen.“
„Besitzt das Volk jeden Tag des Thor die Möglichkeit, seine Sünden zu beichten?“ „Ja, Robin. Es ist der einzige Tag der Woche an dem auch Menschen, die sich NICHT der Göttin geweiht haben, ihren heiligen Ort betreten dürfen – einmal abgesehen von Flüchtlingen und Kranken natürlich.“ Das erstaunte Robin. „Heißt das, dass ihr Flüchtlingen immer Obhut bietet, egal welcher Herkunft sie sind?“ „So ist es.“, bestätigte Zaida. „Wir machen keinen Unterschied zwischen jung und alt, arm und reich oder schön und hässlich. Denn wir wissen, dass die Göttin auf vielerlei Wegen zu uns kommt und alle Gestalten, in denen SIE sich uns zeigt, sind heilig – so wie der Leib an sich heilig ist. Es ist egal, in welcher Gestalt SIE sich uns offenbart, es sind doch immer nur verschiedene Variationen der Einen Göttin.“ Robin schwieg beeindruckt.
Also ist es mehr als nur eine tolerante Religion., dachte sie ehrfürchtig. Es bedeutet Liebe zum Leben in all seinen Erscheinungsformen. Zaida lächelte wissend. Hatte sie ihren Gedanken vernommen? „Aber was würdet Ihr tun, wenn es einmal zu Auseinandersetzungen deswegen kommen sollte? Was zum Beispiel wenn ihr einer Schwangeren Unterschlupf gewährt und der Vater des Kindes sie sich mit Gewalt zurückholen möchte? Die Göttin behüte, dass so etwas schreckliches passiert, aber -nur hypothetisch gefragt- was würdet Ihr dann tun?“ Zaidas Augen verdüsterten sich, so als lege sich ein Schatten darüber.
„Sprich so nicht, Robin.“, sagte sie scharf. „Das was du sagst, sind die Schatten der Dinge, die passieren werden. Wenn du Böses sprichst, redest du es herbei.“
„Aber Mutter“, erschrak Robin. „Ich würde Euch niemals etwas Schlechtes wünschen!“ „Dann rede nicht über solche Dinge.“, entgegnete die Priesterin streng. „Merke dir: Was auch immer du dir wünschst, es könnte dir gewährt werden. Du vermagst die Zukunft in der Gegenwart zu beeinflussen, also denke nach ehe du leichtfertig etwas herbeiwünschst.“ „Aber Herrin“, Robins Stimme klang geknickt. „Ich dachte immer, wir alle seien in der Hand der Göttin. Allein SIE, die allmächtig ist, bestimmt das Schicksal – oder irre ich da? Wie könnte ich etwas dagegen ausrichten?“
Bei dieser Frage wichen alle Ängste aus Zaidas Gesicht und sie konnte wieder lächeln. „Denkst du wirklich du bist deinem Schicksal gnadenlos ausgeliefert?“ „Ist es denn nicht so?“ Robin war überrascht. „Natürlich nicht! Es stimmt zwar, dass wie alle in den Händen der Göttin liegen -das kann und will ich nicht bestreiten-, doch allein du bestimmst dein Schicksal in der Gegenwart durch das was du tust und denkst.“ Sie sah, dass Robin nicht verstand und ergänzte: „Vielleicht hilft es dir, wenn ich es dir an einem Beispiel erkläre. Pass auf: Wenn du die Erde als Ganzes betrachtest, dann leben auf ihr Millarden an Menschen. Jeder Mensch ist an sich einzigartig und lebt sein Leben unabhängig von den Anderen. Wenn du nun die Erde als Göttin siehst und dich als einen der Menschen – zu welchem Urteil kommst du dann?“
Robin überlegte. „Ich komme zu dem Schluss, dass trotz der allmächtigen Mutter, die einzelnen Kinder ihr Leben unabhängig führen, trotz IHREM Einfluss ungebunden von IHR. So wie in einem Haus -nennen wir es Göttin- die Insassen jeder für sich sein Leben führt, ohne sich nach den Anderen richten zu müssen. Es hat zwar eine Beziehung zu seinem Heim, er liebt es, achtet es, lebt darin und akzeptiert es als seine Heimat; doch er ist nicht daran gebunden und lebt sein Leben allein und so wie er es für gut und richtig hält.“ Langsam kam die Erkenntnis und als Robin zu Zaida sah, nickte sie zustimmend. „Du hast es erkannt, meine Tochter.“ Sie umarmte sie glücklich. „Ich bin stolz auf dich.“
„Das kannst du auch sein.“, tönte da eine weibliche Stimme hinter ihnen und als sie sich umdrehte, erblickte Robin die Hohepriesterin Morgaine. Sie trat geräuschlos auf sie zu und bot Robin die Hand zum Kuss dar – eine Ehre, die nur wenigen zuteil wurde. Robin traten vor Freude die Tränen in die Augen, als sie einen Kuss auf die Hand der weisen Frau hauchte. „Und nun erhebe dich, meine Tochter. Es war ein anstrengender Tag. Du hast vieles gelernt und sollst nun offiziell als unsere Aspirantin ausgerufen werden. Folge mir. Ich führe dich in den Tempelsaal.“

Kapitel XVI – Die neue Welt
Als Robin die große Halle aus Marmor betrat, richteten sich alle dreizehn Augenpaare unvermittelt auf sie. Die Gespräche wurden unterbrochen und es herrschte, bis auf einige wenige Tuscheleien hinter vorgehaltener Hand, vollkommene Stille.
Mutter Morgaine durchquerte die Halle und führte Robin schweigend zur Feuerstelle an der Seite. Hier saßen Pendra, die Priesterin, die sie gestern wegen ihrer Kerze ermahnt hatte und noch eine weitere Priesterin. Mutter Morgaine bedeutete Robin sich zu setzen und begab sich dann in die Mitte des Saals. Während Robin genüsslich ihre Beine ausstreckte, um sie am warmen Feuer zu wärmen, begann die Hohepriesterin mit ihrer Rede: „Meine Schwestern, Töchter und Freundinnen. Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass wir ab heute eine neue Aspirantin auf dem Weg zur Priesterin begrüßen dürfen. Sie hat gestern das Zimmer der Jungfrauen bezogen und wird nun offiziell von uns in die Gemeinschaft aufgenommen. Robin!“
Sie winkte sie mit einer Geste zu sich und Robin erhob sich gehorsam, um vor die Hohepriesterin zu treten. Sie spürte eine Bewegung in ihrem Rücken und wusste, dass sich die anderen Priesterinnen erhoben hatten, um ihr zu folgen. Was wohl gleich passieren wird?
Mutter Morgaine lächelte warm und bedeutete Robin, sich vor sie zu stellen, während die Priesterinnen einen Halbkreis um sie bildeten. Die Hohepriesterin sagte ernst: „Wir verlangen von dir nicht, dass du ein Gelübde ablegst, Robin. Aber in deinem ersten Jahr in diesem Heiligtum der Göttin musst du uns einiges versprechen.“ Robins Herz schlug schneller. Was würde man von ihr verlangen? „Als erstes frage ich dich: Bist du aus freiem Entschluss und eigenem Willen zu uns gekommen? Hat niemand dich bedroht oder dich gezwungen, hier Zuflucht zu suchen?“ Robin sah sie erstaunt an. „Aber natürlich nicht, ich…“ „Es ist unsere Regel, dass du diese Fragen klar und deutlich beantwortest.“, fiel ihr die Hohepriesterin streng ins Wort. „Gut,“ Robin nickte. „Ich bin aus eigenem Willen hierher gekommen.“
„Versprichst du, jede Frau in diesem Schrein der Göttin als deine Schwester, Mutter und Tochter zu behandeln, so als sei sie mit dir verwandt?“ „Ich verspreche es.“, sagte Robin feierlich. „Versprichst du, jedem Befehl einer älteren Priesterin hier, der den Gesetzen entspricht, nachzukommen?“ „Ich verspreche es.“ „Versprichst du, mit keinem Mann zu schlafen…“ Morgaine hielt kurz inne und ergänzte dann: „… mit Ausnahme des Sommerkönigs, wenn er es will.“ Robin wurde leichenblass. Galahad. Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein, das war Teil der Vergangenheit – und somit abgeschlossen. Hier, in ihrem neuen Leben, war es egal, was sie damals getan hatte – es zählten nur ihre neuen Gelübde.

Robin, merkte, dass Morgaine sie noch immer fragend ansah und sagte schnell und mit fester Stimme: „Ich verspreche es.“ Und es fällt mir nicht schwer, denn der Mann den ich liebe, ist mir nun versagt. Die Hohepriesterin nickte zustimmend. „So sei es! Im Namen der Göttin nehme ich dich bei uns auf.“ Sie umarmte Robin, und die Priesterinnen folgten nacheinander ihrem Beispiel.
Als alle Frauen sie umarmt hatten, stellte Robin zu ihrer Überraschung fest, dass sie weinte. Mir wurde mein altes Leben genommen, doch nun habe ich eine neue Familie. Zaida trat zu ihrem Schützling und legte ihr sanft den Arm auf die Schulter. „Willkommen, meine Schwester und Tochter.“ Robin sah sie verschwommen lächeln. Sie schniefte und wischte sich mit einer eleganten Bewegung die Freudentränen aus den Augen. „Ich… es tut mir leid, ich weiß auch nicht was in mich gefahren… willkommen meine Mentorin und Schwester.“ Sie umarmte Zaida, als seien sie Schwestern. Nach einer Weile sagte sie mit dünner Stimme, die ihren Gefühlstumult nicht zu überspielen vermochte: „Jetzt weiß ich, was du mir vorhin sagen wolltest. Es ist… einfach unglaublich. Ich habe eine Familie bekommen.“ Die Ältere strich ihr sanft über die Wange, während sie antwortete: „Ich verspreche dir, solange du unter diesem Tempel dienst, wird es nie anders sein…“

„Und das ist Senara.“, sagte Zaida und deutete auf die schmale junge Frau, die mit verschränkten Beinen auf einer der Marmorbänke saß und gedankenverloren strickte. Ihre laubgrünen Augen richteten sich durchdringend auf die wechselnden Fäden, die sie in ihren schlanken Fingern wiegte. Ihre goldblonden, zu einem lockeren Zopf geflochtenen, Locken umflossen sie wie einen Engel. Auf ihrer blassen Stirn prangte der blaue Halbmond und um ihren Hals wand sich eine silberne Kette mit einem Anhänger der Hand von Fatima.
„Sie ist seit rund vier Sommern bei uns und somit, nach dir, die Jüngste in diesem Tempel. Senara dient als eine der Hände der Göttin.“ Bei diesen Worten beendete die Priesterin ihre Strickarbeit und blinzelte erstaunt. Sie richtete sich abrupt auf, so als sei sie aus einem Traum erwacht. „Bei der Göttin!“, entfuhr es ihr und Robin bemerkte ihre weiche, melodische Stimme. „Ich bin doch tatsächlich in Trance gefallen.“ Sie bemerkte die beiden Priesterinnen und lächelte kindlich. „Verzeiht mir meine fehlende Aufmerksamkeit. Was muss ich wohl für einen Eindruck machen? Doch das passiert mir jetzt schon fast jedes Mal beim Stricken. Ich starre so vor mich hin und plötzlich finde ich mich im Reich der Herrin.“ „Hast du etwas gesehen, Senara?“, fragte Zaida sanft. „Nein.“ Ihre Stimme klang enttäuscht. „Ihr wisst, Das Gesicht ist bei mir nur sehr schwach…“
Zaida nickte. „Dann sorge dich nicht, Schwester. So die Göttin will, wird es geschehen. Solange du weiter in Trance fallen solltest, und es niemandem schadet, behalte diese Technik bei. Du weisst: Der Geist muss nicht nur geschult, sondern auch entspannt werden.“ Die Priesterin mit Namen Senara lächelte strahlend und Robin dachte: Sie ist wirklich wunderschön. „Wenn Ihr es sagt, Herrin, so sei es.“ Sie lächelte Robin aufmunternd zu, dann beugte sie sich wieder über ihre Strickarbeit und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

Zaida sagte: „Tja, das ist eben Senara. Eine tolle Weberin, Näherin und Strickerin. Sie ist die begabteste der Hände der Göttin… doch sie ist tollpatschiger als ein kleiner Hund.“ Die Priesterin lachte, als Senara sie nicht einmal mehr hörte. „Siehst du was ich meine, Robin? Sie träumt schon wieder!“
Robin stimmte in das ansteckende Lachen ihrer Mentorin und Freundin mit ein und gemeinsam gingen sie zur nächsten Marmorbank, die etwas abseits der Tempelhalle stand. Hier saßen drei weitere Priesterinnen und sprachen über die Wirkung von Heilpflanzen. „Aber warum sollte man Bärlauch nur innerlich anwenden, wenn man daraus auch wunderbare Umschläge gegen Hautkrankheiten zubereiten könnte?“, fragte die Eine. „Weil es ursprünglich ein Gewürzkraut war! Weisst du nicht mehr, wie Mutter Morgaine uns immer erzählte, dass es in der Wildkräuterküche häufig an Stelle von Knoblauch verwendet wird, da Bärlauch beinahe dieselben Inhaltsstoffe enthält? Warum sollte man von diesem Bild abweichen?“ Die Andere schüttelte energisch den Kopf. „Aber warum sollte man sich immer stur an den alten Bildern festhalten und sich der Veränderung verweigern? Dann wären wir nicht besser als die Christenpriester der alten Tage!“ Die Stimme der Dritten klang verärgert, als sie sagte: „Du musst den Traditionen treu bleiben, welche sich über Generationen als wirksam erwiesen haben. Warum das bekannte Gute gegen etwas neues Schlechtes ersetzen?“ „Aber du weisst doch gar nicht, ob es schlecht ist!“, erwiderte die Erste wütend. „Bist du die Große Göttin, dass du in die Seelen der Dinge zu schauen vermagst, um ihre Zugehörigkeit zu ermitteln?“

Mutter Zaida hatte genug gehört. Sie unterbrach den aufkeimenden Streit, indem sie schlichtend zwischen die drei Priesterinnen trat und begütigend sprach: „Aber aber, meine Lieben. Ich habe das Gefühl, ihr weicht vom eigentlichen Thema ab. Es ging um die Verwendungsmöglichkeiten des Bärlauch, und nicht um eine theologische Diskussion.“ Die Angesprochenen senkten bei dieser Zurechtweisung schuldbewusst den Blick. Die erste sagte leise: „Es tut uns leid, Herrin. Wir wollte nicht wie kleine Kinder zanken. Die Sache geriet außer Kontrolle. Verzeiht uns.“ Zaida lächelte wissend und sagte ruhig: „Vor mir müsst ihr euch nicht verantworten, ich bin nicht die Große Göttin. SIE wird euch zur Rechenschaft ziehen, wenn es so sein soll. Wie konntet ihr nur gegen eure eigenen Schwestern sprechen? Wisst ihr nicht mehr, was ihr an eurem ersten Tag hier gelobt habt?“
Die zweite, etwas pummligere der Priesterinnen hob den Blick und rezitierte artig: „Ich verspreche, jede Frau in diesem Schrein der Göttin als meine Schwester, Mutter und Tochter zu behandeln, so als sei sie mit mir verwandt…“ Zaida blickte streng in die Runde. „Und, habt ihr euch daran gehalten, meine Töchter?“ Robin dachte belustigt: Jetzt wirkt sie wie die Mutter, die ihre Kinder beim Naschen aus der Keksdose erwischt hat. Dabei könnte sie die Tochter sein. „Nein, das haben wir nicht, Mutter. Wir stehen in Ungnade.“ Zaidas Blick milderte sich, behielt jedoch seine Unnachgiebigkeit und Strenge bei. „Ihr steht nicht in Ungnade, ich wart nur unvorsichtig. Passt nächstes Mal besser auf eure Worte auf und hütet eure Zunge, damit sie nicht mit euch durchgeht wie ein wildes Pferd, und die eigenen Kameraden angreift.“ „Ja, Herrin.“, antworteten die drei Priesterinnen im Chor. Ihre Stimmen klangen zwar geknickt, doch man hörte deutlich -wie Robin fand- die Erleichterung heraus, nicht härter bestraft worden zu sein.
„Doch nun genug davon.“ Zaidas Stimme brach das Schweigen. „Eigentlich habe ich euch nur aufgesucht, um Robin euch vorzustellen.“ Sie legte den Arm um sie und zog sie näher zu sich, so als wolle sie Robin wieder ins Geschehen einbringen, das bis jetzt ohne sie ablief. „Sieh,“ -sie zeigte auf die erste Priesterin- „das ist Ianna. Sie ist eine der Ohren der Göttin und spielt die heilige Harfe.“ Robin betrachtete die Frau vor sich. Sie war Mitte Dreißig und hatte azurblaue, wachsame Augen, von denen sich bereits kleine Fältchen abzeichneten, die andeuteten, dass Ianna eine lebensfrohe Natur war und dem Lachen nicht abgeneigt. Sie trug eine gefleckte Hirschfelltunika über dem blauen Priesterinnengewand und um ihren Hals hing eine Silberkette mit dem Anhänger eines wohlgeformten, silbernen Ohres. In ihren blonden, schulerlangen Haaren wanden sich bereits die ersten weißen Strähnen, die man jedoch erst auszumachen in der Lage war, wenn man nahe an sie herantrat, so wie Robin jetzt.
„Warum trägt sie ein Hirschfell über ihrem Gewand?“, fragte Robin neugierig und strich vorsichtig über das weiche Fell an Iannas schmalen Leib. Die Priesterin lachte. „Hat dir das Zaida nicht erzählt? Das sieht ihr wieder einmal ähnlich. Alle Geheimnisse der Welt kann sie lehren, aber sie bringt es nicht fertig, den Jungfrauen zu erklären, warum wir diese Tunika tragen…“ Sie lächelte versonnen und klopfte mit der linken Hand einladend auf ihre linke Seite, wo noch ein freier Platz auf der Marmorbank war. „Komm Robin, setz dich. Ich will es dir erzählen.“
Noch ehe sie Einspruch erheben konnte, fand sich Robin an Iannas Seite wieder. „Also, das ist folgendermaßen… Ich darf es ihr doch erklären, oder nicht Herrin?“ Sie schien sich erst jetzt zu entsinnen, dass sie nicht allein war und die stellvertretende Hohepriesterin vor ihr stand. Zaida lächelte, während sie fast unmerklich den Kopf über den Eifer der älteren Priesterin schüttelte. „Aber sicher, Ianna. Nur zu. Wenn du es für würdig erachtest, mir Robin wieder auszuhändigen, dann rufe mich. Ich bin bei Mutter Morgaine.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und schritt davon.

Kapitel XVII – Die Priesterinnen der Zeit
Ianna sah ihr mit verständnislosem Blick hinterher. „Ich weiß gar nicht was sie hat. Manchmal kann Zaida richtig zickig sein.“ Kann?, dachte Robin ironisch. Als ich sie das erste Mal traf, war sie die Mürrigkeit in Person. Ianna seufzte und fing sich wieder. „Wo war ich jetzt? Ach ja, die Tuniken.“ Sie schenkte Robin ein strahlendes Lächeln und Robin dachte wieder: Sie ist wirklich schön. Auch in ihrem Alter. „Bei uns gibt es einige auserwählte Priesterinnen“, begann Ianna. „Die sich nicht nur einem Leben im Dienste der Göttin verpflichtet haben, sondern auch verschiedene feste Rituale ausführen. Insgesamt haben wir hier elf Priesterinnen der Tageszeiten. Jede von ihnen dient entweder bei den Morgen- oder den Sonnenaufgangsriten, oder bei den Nacht- beziehungsweise den Sonnenuntergangsriten.“
„Und was genau tun sie bei den Riten? Oder ist das geheim?“ Ianna lächelte und drehte sich provokativ um, ehe sie flüsternd antwortete: „Die Priesterinnen beschwören die Göttin der jeweiligen Tageszeit, erbitten IHRE Kraft und lenken sie auf die zu erzielenden Ergebnisse, zum Beispiel der Heilung eines Kranken oder der Unterstützung eines Zaubers. Das tun sie durch Gebete und Tanz. Wenn es kein gewünschtes Ergebnis zu erzielen gibt, dann tun die Priesterinnen es um die Große Göttin zu rufen und sich IHRER ewigen Anwesenheit zu versichern und IHR zu danken, indem sie SIE unterhalten mit Gesang, Tanz und ähnlichem. Dabei hat jede Priesterin,“ -sie erhöhte wieder ihre Stimme- „eine bestimmte ihr zugewiesene Tageszeit, zu der sie diesen Dienst der Göttin verrichtet. Siehst du,“ -sie zeigte auf die zweite Priesterin neben sich- „Elaine, zum Beispiel, ist nicht nur -wie ich- eine der Ohren der Göttin und spielt die heilige Leier, sie ist auch die Sonnenpriesterin sieben Uhr.“ Robin betrachtete die Priesterin und entdeckte tatsächlich das silberne Ohr um ihren Hals. Sie trug, wie Ianna, eine Hirschfelltunika über ihrem Gewand, besaß dunkelbraune, fast schwarze Augen und kastanienbraune, zu zwei Zöpfen geflochtene, Haare, in denen sich das allmähliche Grau des Alters mischte. Robin schätzte sie auf rund fünfundvierzig Jahre. „Und Dieda,“ -Ianna deutete auf die dritte der Priesterinnen auf der Bank- „ist nicht nur Auge der Göttin und dient als Prophetin, sie ist sogleich unsere Sonnenpriesterin neun Uhr.“

Robin besah sich auch Dieda neugierig und stellte fest, dass sie so gar nicht ins Bild der hübschen, meist jungen, Priesterinnen passen wollte. Sie war pummelig robust, hatte glatte, kupferrote Haare, die sie im Nacken knotete, und malachitfarbene Augen. Sie trug ebenfalls die Hirschtunika und um ihren Hals wand sich eine Silberkette mit dem Anhänger eines Utchat, des Horusauges. Robin nickte ihr, wie zuvor Elaine, freundlich zu, doch Dieda reagierte nicht. „Ianna, was hat sie denn? Habe ich Dieda auf meine kurze Zeit hier schon verärgert?“ Die Ältere lächelte.
„Aber nein, Robin. Bitte verstehe das nicht falsch. Dieda ist blind. Sie kann dich nicht sehen.“ „Oh.“, war alles was Robin dazu einfiel. Warum, so dachte sie dann verwundert. Sind bereits zwei der Priesterinnen, die ich hier kennenlernte, in ihrer Sinneswahrnehmung eingeschränkt? Was hat das zu bedeuten? Ist es Vorschrift, sodass sie nur für die Botschaften der Göttin empfänglich sind -Dieda als Orakelpriesterin und Pendra… als was auch immer-, oder ist ihr gar ihr Wille, der sie dazu treibt, freiwillig ihre Sinne der Göttin zu opfern? Ianna sah Robin von der Seite an und sagte nach einer Weile: „Dieda dient schon seit achtzehn Jahren hier und sie ist eine der besten Wahrsagerinnen, natürlich nach Zaida und Mutter Morgaine. Trotz ihrer Blindheit, besitzt sie Das Gesicht in starkem Ausmaß.“
„Besitzt eigentlich jede Priesterin Das Gesicht, Ianna?“, fragte Robin neugierig. Sie dachte immer, die Gabe des Hellsehens sei etwas seltenes und besonderes. „An sich besitzt jede diese Gabe Robin. Es ist eine natürliche Fähigkeit, die jedem von uns gegeben ist. Freilich ist viel Arbeit nötig, um sie zu schulen. Darum sind wir ja hier.“ Sie lächelte versonnen. „Doch natürlich gibt es solche und solche Priesterinnen. Einige besitzen Das Gesicht nur in geringem Maße, andere stark oder in vollem Ausmaß – so wie Mutter Morgaine.“ „Kommt Das Gesicht zu dir?“ Robin fragte, wie immer, wieder einmal genau das, was sie dachte.
„Ich gebe zu, es könnte stärker sein… Leider zeigt es sich mir nur sehr selten und auch nur in bestimmten Gefahrensituationen. Es ist wie eine Schleuse, die sich manchmal öffnet und einen Einblick auf das frei gibt, was hinter dem Wasser liegt. In solchen Momenten empfange ich Visionen, doch meistens ist es mir gerade möglich, Gedanken zu lesen.“
Robin betrachtete die in sich gekehrte Priesterin und dachte: Mir ist vorher nie aufgefallen, wie zerbrechlich sie wirkt. Sie ist so schmal und klein, wie ein Vogel. Wenn ich nicht aufpasse, fürchte ich fast, ich könne sie mit der Hand umfassen und zerbrechen… Warum wirkt sie nur so ausgezehrt? „Das liegt an der magischen Arbeit, meine Schwester.“ Robin zuckte zusammen als habe man sie geschlagen. Hatte Ianna eben ihren Gedanken vernommen? „Ich… ich habe nichts gesagt.“ Ianna öffnete die Augen und sah sie so durchdringend an, dass es Robin kalt den Rücken hinunter lief. „Das musstest du auch nicht. Es reicht, wenn du es denkst.“

„Aber…“, setzte Robin an, schloss den Mund jedoch wieder. Sie senkte den Blick und schwieg. Ianna betrachtete sie abschätzend von der Seite. „Du stehst an der Grenze zwischen Glaube und Zweifel.“, sagte sie und es klang wie eine Feststellung. „Du willst deinen Sinnen trauen, die dir sagen, was ist. Doch das steht im Zweispalt zu deinem Gewissen, welches dir sagt, was nicht sein kann…“ Sie verstummte und lächelte wissend. „Glaube mir Robin, vertraue lieber auf dein Herz. Denn Gefühle lügen nie.“
Robin nickte langsam. „Ich… ich verstehe.“ Doch in Wirklichkeit verstand sie gar nichts. „Ging es dir auch so, als du als Jungfrau hier dientest? Dieser…“ -sie zögerte ihre Gefühle in Worte zu fassen- „…dieser Gefühlstumult und das Gefühl innerlich zerrissen zu sein?“ Ianna hörte aufmerksam zu und nickte. „Oh ja. Ich glaube, das ging bis jetzt jeder von uns anfangs so. Es ist nur natürlich. Seit jeher lag der Kopf im Zwiespalt mit dem Herzen – es ist die alte Konfrontation zwischen der Wahrheit und dem, was wir für die Wahrheit halten. Doch sorge dich nicht. Du wirst lernen, das als richtig zu erachten, was du als richtig erkennst.“ Ich hoffe du hast Recht. Robin lächelte die Ältere dankbar an, als sich plötzlich ihre Sicht klärte, so als lüfte man den Schleier des Schicksals. Robin wusste plötzlich, dass Ianna die Wahrheit sprach. So war es und so wird es immer sein. Sie spürte ein Kribbeln im Rücken und sagte mit merkwürdiger Stimme: „Ich werde noch viele Gefahren bestehen, bis ich mein Ziel erreiche, so wie es mir vorbestimmt ist.“ Dann veränderte sich ihre gleichmäßige Stimme und wurde rau, als Das Gesicht durch sie sprach: „Der Adler wird frei fliegen über den Himmel der Ignoranz, doch die dunkle Rabenmutter wird ihm die Flügel stutzen und er wird lernen, dass allein die Akzeptanz und die unendliche Liebe ihm seinem Thron nahe bringt. Die Löwin wird wachsen wie die schöne Wüstenblume und sie wird dem Puma die Krallen zeigen, während die Drachentochter den Thron besteigt um über das Reich der Rabenmutter zu herrschen. Sie wird bluten, ehe sie ihn erreicht und sie wird sterben. Doch sie wird wiedergeboren und stärker als je zuvor den Torque der Herrin tragen…“ Ianna sog vor Überraschung laut die Luft ein. „Mutter Zaida!“, rief sie dann laut durch die Halle. „Kommt schnell!“ Sie wandte sich wieder der jungen Frau zu, die, mit starrem Blick und in sich gekehrt, weit entfernt schien. „Robin, bitte sage mir: Was siehst du?“
Robin atmete tiefer und sagte schließlich mit ruhiger Stimme: „Ich sehe… Hirsche… Überall Hirsche, die miteinander im Drachenwald laufen und springen… sie folgen IHM… ER ist ihr König, der Herr des Waldes… Jetzt hebt er den Kopf mit dem mächtigen Geweih… er wittert Feinde… Ich sehe mit seinen Augen… da ist eine Frau… sie, sie tritt zu ihm und streckt die Hand nach ihm aus… Aber, was ist das?… Diese Frau, sie hat die Schönheit einer Elfe… Ihre Augen schimmern grün wie die einer Katze… ich… ich bin SIE… Da ist ein Leuchten, ein Strahlendes Licht, dass alles überstrahlt… es erhellt den Wald und die Lichtung… Ein Pfiff ist zu hören… eine Schar von Schatten umringt uns… sie… Oh Nein!“ Robin keuchte und schrie entsetzt auf. „Nein!… Das dürfen sie nicht!… Der Hirschkönig… er ist voller Blut, sein Schrei dröhnt durch den stillen Wald… und da ist Blut, überall Blut… Blut…“
Robin schrie wie am Spieß und fiel ohnmächtig und schwer wie ein Stein, von der Bank. Zaida, die eben herbeieilte, kam eben noch rechtzeitig, um sie aufzufangen. Behutsam, als sei Robin ein zerbrechlicher Gegenstand aus Glas, legte sie sie auf den kalten Marmorboden und beugte sich routiniert über sie, während die übrigen Priesterinnen sich aufgeregt um sie scharten. Zaida beachtete sie kaum, sondern fühlte Robins Pult und hörte ihr Herz ab. Sie hob sanft Robins Kopf in ihren Schoß und redete beruhigend auf sie ein: „Robin, meine Tochter, wenn du mich hören kannst: Bitte sei ruhig. Es ist alles gut. Das, was du siehst, sind nur Bilder, harmlose Bilder. Lass sie ziehen und kehre zu mir zurück… Komm zu mir, Robin. Kehre zurück und lass die Bilder ziehen. Betrachte sie als kämen sie von außen. So ist’s gut. Atme tief ein… aus… ein… aus… ein… aus…. Ja, genau so. Öffne die Augen und sieh mich an, meine Tochter.“ Robin seufzte und öffnete so langsam die Augen, als seien sie aus Stein und es koste sie unendliche Mühe. „Mutter.“, hauchte sie. Zaida wusste nicht, ob Robin damit die Göttin meinte, oder sie.

Kapitel XVIII – Der Rat der Priesterinnen
Robin war in einen fiebrigen Schlaf gesunken. Unruhig warf sie sich von einer Seite auf die andere, während Zaida an Robins Bett wachte und die Zeit verging.
Ab und zu fuhr Robin aus ihrem traumlosen Schlaf hoch und blickte verwirrt und mit fiebrigen Augen um sich, so als wüsste sie nicht wo sie war. Dann rief sie jedesmal nach Galahad und als Zaida, sanft auf sie einredete, dass Galahad nicht hier sei, wurde sie regelrecht aggressiv und beschimpfte sie aufs Unangenehmste. „Ich muss zu ihm.“, verlangte sie in solchen Momenten mit strengem Tonfall. „Bringt meinen Gefährten zu mir!“ Doch Zaida schüttelte nur den Kopf, was Robin so sehr reizte, dass sie wie von Sinnen anfing zu schreien und um sich zu schlagen.
„Ich muss!“, schrie sie dann und wehrte sich wie eine Furie gegen den festen Griff der Priesterinnen um sie. „Ich muss zu ihm! Lasst mich!“, fauchte sie wie eine Wildkatze und wand sich unter dem unerbitterlichen Griff der zwei Priesterinnen. Zaida, deren Gesicht kalkweiß wurde, ging wortlos zur Holztruhe unter Robins Almanach im Zimmer der Jungfrauen, und förderte ein in Seide verpacktes Etwas zu Tage. Sie schloss mit mechanischen Bewegungen die Truhe und brachte das Päckchen zu den anderen Priesterinnen, die noch immer damit beschäftigt waren, die um sich schlagende, fluchende Robin unter Kontrolle zu bringen.

„Flößt ihr das ein. Das wird sie beruhigen.“ Ihre Stimme klang niedergeschlagen und hart. Die eine Priesterin nahm den Seidenbeutel entgegen und öffnete ihn vorsichtig. In ihm befand sich etwas Valeriana officinalis, Arznei-Baldrian. Sie sah Zaida an und diese nickte kaum merklich, ehe sie sich abwandte und still den Raum verließ. Die Priesterinnen brauten Robin einen Tee, dem sie noch allerlei Kräuter mit beruhigender Wirkung beifügten. Nachdem sie ihn ihr an die Lippen hielten und sie aufforderten, den Trank zu schlucken, fügte sie sich ohne Widerspruch. Bald schlief Robin tief und fest.

Robin erwachte endlich nach acht Tagen zwischen Wachen und Träumen. Sie konnte wieder klar denken und fühlte sich, wenn noch zerschlagen, so doch voll funktionsfähig. Als sie die Augen öffnete, sah sie direkt in das vertraute Gesicht Zaidas, die ihr nicht von der Seite gewichen war, seit sie ihren Schlaftrunk erhalten hatte. „Mutter…“, raunte sie und Zaida ergriff zärtlich ihre Hand. „Ich mache dir keinen Vorwurf, meine Tochter. Du warst nicht du selbst.“
„Was… was ist passiert?“ Robins Stimme zitterte, als sie versuchte sich zu erinnern. „Was habe ich getan?“ Ihr Tonfall nahm, ohne dass sie es hätte verhindern können, einen hysterischen Ausdruck an. Eine dunkle Vorahnung regte sich in ihr. „Du hattest eine Vision, meine Tochter.“, erklärte die Zaida schlicht und ihr Gesicht verdüsterte sich. „Was habe ich gesehen?“, fragte Robin, von plötzlicher Unruhe ergriffen. Was habe ich gesehen, dass Mutter Zaida mich so ansieht? Was in aller Welt ist passiert? Robin griff sich an den Kopf, doch so sehr sie sich auch mühte, sie konnte sich nicht erinnern.
Zaida lächelte. Doch es war ein trauriges Lächeln, das ihre Augen nicht strahlen ließ, und Robins Unbehagen verstärkte sich. „Sagt mir, Mutter was habe ich gesehen?“ Robins Stimme klang in ihren Ohren hoch und schrill. Zaida drückte kurz ihre Hand. „Es war eine Prophezeihung und es war…“ Sie zögerte, ehe sie mit fester Stimme ergänzte: „Und es war der Traum der jungfräulichen Jägerin.“ Robin verstand nicht, was Zaida damit meinte, doch an ihrem Tonfall hörte sie, dass es etwas sehr wichtiges sein musste. Ich spüre ihr Unbehagen. Warum nur beunruhigt sie meine Vision so? Habe ich etwas Schreckliches prophezeiht, ohne mich daran erinnern zu können? Oh Göttin, was habe ich nur getan?

Zaida bemerkte Robins Unwissenheit und sagte: „Der Traum der Jungfrau zeigt sich nur wenigen, Robin, denn er ist Zeichen der innerlichen Reife. Kennst du das Ritual der Beltain-Nacht, welches seit uralten Zeiten praktiziert wird?“ Robin überlegte. Ja, ich habe einmal in Marion Zimmer Bradleys „Die Nebel von Avalon“ davon gelesen: Die Jungfrau Avalons wird zu den Beltanefeuern geschickt und empfängt vom Hirschkönig, der den Gehörten verkörpert, im heiligen Hain ein Kind der Götter. Doch das kann noch nicht alles sein. Ach, warum kann ich mich nur nicht erinnern? Sie biss sich auf die Lippen. Ja, jetzt fällt es mir ein. Bevor das Ritual seinen Höhepunkt in der Vereinigung von Priesterin, die die Göttin ist, und Priester, der der Gott ist, findet, läuft der Erwählte mit den Hirschen des Waldes und wird zum Hirschkönig, den er herausfordert und bezwingen muss. Wenn dies geschehen ist, kommt er als Gehörnter zu seiner Jungfrau, die ihm die animalische, nährende Kraft der Göttin schickt. Zaida beobachtete Robin mit unbewegten Gesicht. Lauschte sie ihren Gedanken? Robin fiel ein, dass sie nicht geantwortet hatte und sagte: „Ja, ich habe davon gehört.“
„Dann kennst du gewiss den Teil des Rituals, in dem der Erwählte mit den Hirschen rennt.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Robin legte die Stirn in Falten. Worauf wollte Zaida hinaus? „Ja, doch ich verstehe nicht…“ Die Priesterin ließ ihre Hand los und lehnte sich im Holzstuhl zurück, während sie Robin nicht aus den Augen ließ. „Du hast diese Szene gesehen.“ Robin verstand. „Oh.“ Das bedeutet, ich wurde von IHR erwählt, die jungfräuliche Jägerin zu sein. Robin wurde erst bewusst, welche Ausmaße diese Erkenntnis hatte, als Zaida ernst sagte: „So ist es. Der Rat der Priesterinnen muss sich nun beraten, was geschehen soll.“

Zaida lauschte mit unbewegtem Gesicht den Ausführungen der Priesterinnen, welche an der runden Tafel des Rates saßen. Sie strahlte, ebenso wie ihre Freundin Morgaine, die gesamte Würde einer Priesterin der Göttin aus.
„Aber sie ist zu jung, um zur Priesterin geweiht zu werden!“, meinte eine der Frauen eben und schlug mit der Hand auf den Tisch. Ihr Name war Lhiannon. Sie war eine kleine, gebeugte Frau um die Fünfzig und diente als Mondpriesterin zehn Uhr. Ihre Haare waren eisgrau, doch ihre Augen strahlten im unveränderlichen Blau des Meeres, und straften ihr Alter Lügen. Sie war eine Weise der Göttin und trug um ihren dünnen, faltigen Hals eine Silberkette mit dem Gealach, dem Zeichen der Mondin. Auf ihrer gefurchten Stirn prangte blass der blaue Halbmond. „Sie zählt nicht einmal achtzehn Sommer, wie sollte sie da die Reife einer Priesterin besitzen? Ich war fast doppelt so alt, als ich initiiert wurde.“
„Aber“, erhob da eine Zaida bekannte Stimme Einspruch. „Sie ist eine der weisesten ihres Alters. Selbst unsere erwürdige Mutter Morgaine, muss sich eingestehen, dass sie nicht so klug war, als sie Robins Alter zählte. Ihr Scharfsinn und ihre rasche Auffassungsgabe machen sie jetzt schon zu einer besonderen Aspirantin. Wir dürfen sie nicht am Maßstab unserer Generation messen. Zeit bringt Veränderung.“ Zaida hob über dieses Argument erstaunt und anerkennend zugleich die Augenbrauen. Das war unbestritten die Wahrheit. Sie selbst hätte es nicht besser ausdrücken können. Ianna versteht es zweifellos, mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf zu treffen. Das konnte sie schon immer. Die Sonnenpriesterin ein Uhr sah sich in der Runde um, und ihr Gesicht nahm einen -wie Zaida fand- zufriedenen und erhabenen Ausdruck an. Das hat gesessen. „Das kannst du leicht behaupten, da du sie ins Herz geschlossen hast.“, entgegenete ruhig eine Priesterin am Ende der Tafel. Es war Caillean, eine verschlossene Priesterin, die als Hand der Göttin und als Sonnenpriesterin elf Uhr diente. Sie war groß und hager. Ihre blonden, schulterlangen Haare wirkten stumpf und schimmerten fast grau. Ihre mürrischen Augen waren so grün wie Berryl. Der blaue Halbmond auf ihrer Stirn war verblasst, und die Hand der Fatima um ihren Hals hatte ihren Glanz verloren. Sie wirkte -dachte Zaida bitter- wie eine graue, unscheinbare Maus. „Es ist schwer, die benötigte Objektivität zu wahren, wenn man einmal dem Bann der Frau verfallen ist.“
Ianna presste ärgerlich die Lippen aufeinander. Wie konnte sie es wagen, sie so zu verspotten? „Aber, Caillean.“, mischte sich da eine Priesterin mit sanfter Stimme ein. „Urteile nicht so subjektiv. Wie kann es schlimm sein, sich unserer Aspirantin anzunehmen, wo sie uns bis jetzt nur mit Liebe, Offenheit und Ehrlichkeit entgegentrat?“ Die Priesterin hieß Miellyn und war eine der Jüngsten. Sie zählte gerade achtundzwanzig Sommer. Der blaue Halbmond auf ihrer hübschen Stirn leuchtete noch im kräftigen Kobaltblau. Miellyn war, wie Caillean, eine der Hände der Göttin, trug die Hand der Fatima um den schlanken Hals, und diente als Mondpriesterin neun Uhr. Sie besaß feuerrote, zu einem Zopf geflochtene, Haare und veilchenblaue, freundliche Augen. Sie war von ruhigem Gemüt und mied Auseinandersetzungen jeglicher Art.
„Miellyn, ich habe nichts gegen Robin.“, sagte die Priesterin, die Zaida gegenüber saß. „Aber ich muss Caillean zustimmen, dass unsere Zuneigung zu ihr, unseren Verstand täuschen könnte. Wir müssen objektiv werten.“ Es war Kithana, Sonnenpriesterin sieben Uhr und ebenfalls Weise der Göttin. Sie war die Älteste des Rates und zählte rund siebzig Jahre. Ihr Haar war schneeweiß und sie ging gebeugt am Stock. Ihre blassgrünen, wissenden Augen, die die Weisheit und die Göttlichkeit sahen, wirkten trotz ihres Alters klar und rein. Um ihren faltigen Hals hing das Gealach und der Halbmond auf ihrer Stirn war so schwach zu erkennen, dass man dicht herantreten musste, um überhaupt etwas zu sehen. Man konnte eher ahnen, als wissen, dass er auf ihrer dunklen Stirn prangte. „Ich denke, wir sollten uns auf ihre intuitiven und thealogischen Fähigkeiten beschränken, ihre Fähigkeiten als Priesterin.“
Die Priesterinnen nickten einstimmig. „Ihr könnt nicht leugnen, dass Robin auf diesem Gebiet gewisse Kräfte besitzt. Wie wir alle bemerkt haben, hat sie Das Gesicht und das in starkem Maße. Ihr wisst, dass das nur äußerst selten vorkommt, vor allem wenn man noch unausgebildet ist. Sie besitzt -wie wohl alle sensitiven Priesterinnen festgestellt haben- eine leuchtende, unendlich reine Aura. Sie hat es ohne Kenntnis vollbracht, einen Zauber über sich zu legen, um sich vor den Blicken der anderen zu verbergen – allein mit ihrem Gottvertrauen. Sie erweist sich, wie Zaida meinte, als sehr aufnahmefähig und wissbegierig für die Lehren der Großen Wahrheit. Es gibt viele unter uns, die weniger zu bieten haben. Ich glaube sie wäre mehr als geeignet.“ Es war die Sonnenpriesterin drei Uhr, Gwendolyn, die sprach. Sie war, ebenso wie Dieda, ein Auge der Göttin und besaß, als Prophetin, Das Gesicht. Um ihren Hals wand sich, an einer Silberkette, das Utchat, das Horusauge. Der blaue Halbmond über ihren strahlend braunen Augen, leuchtete im Kontrast zu ihren schwarzen Locken, die sie im Nacken knotete. Sie war, ebenso wie Mutter Morgaine, eine vom Dunklen Volk.
„Außerdem dürft ihr eines nicht vergessen: Die Göttin selbst hat sie erwählt. Wer von euch will sich gegen die Wahl der Großen Mutter stellen?“ Darauf können sie nichts erwidern, denn sie wissen, ich spreche die Wahrheit. Selbst die alte Lhiannon und die bissige Caillean müssen einsehen, dass wir gegen das Urteil der Göttin machtlos sind. Und schließlich hat SIE IHRE Hand auf Robin gelegt.
„So sei es.“, ließ sich die wohlklingende Stimme der Hohepriesterin Morgaine vernehmen und es klang wie ein Richtspruch, als sie sagte: „Robin wird noch vor dem nächsten Vollmond zur Priesterin geweiht.“

Kapitel XIX – Die geweihte Priesterin
Zaida überbrachte die freudige Nachricht am nächsten Morgen. Pendra half Robin gerade beim Ankleiden, als die Priesterin ohne anzuklopfen eintrat. „Zaida! Wie schön, dich zu sehen.“ Die Ältere wusste, sie meinte es ernst. „Ich habe mit dir zu sprechen, was deinen weiteren Werdegang bei uns betrifft.“ Robin verstand und wandte sich an ihre Tempeldienerin. „Ich danke dir, für deine Hilfe, Pendra. Aber den Rest schaffe ich schon alleine. Lässt du uns bitte unter vier Augen sprechen?“ Pendra verneigte sich und ging.
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wandte sich Robin mit leuchtenden Augen an Zaida. „Und?“, bestürmte sie ihre Mentorin. „Wie lautet das Ergebnis?“ Sie ergriff gespannt ihre Hände. „Nun sag schon. Ich platze fast vor Neugierde.“ Das merke ich., dachte die Priesterin lächelnd und lockerte sanft Robins Griff. „Ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass du noch diesem Monat zur Priesterin geweiht wirst.“ „Was? Ist das dein Ernst?“ Sie quiekte vor Freude wie ein Schwein und strahlte über das ganze Gesicht. „Das ist ja Wahnsinn! Ich kann es gar nicht glauben.“ Sie umarmte Zaida stürmisch und drückte ihr einen Kuss auf beide Wangen. „Danke! Danke, danke, danke.“

Es war drei Tage vor Vollmond, als Robin gerufen wurde. Sie hatte, seit sie erfahren hatte, dass sie initiiert werden sollte, gefastet, um ihren Geist und Körper zu reinigen und trug anstatt dem schneeweißen Gewand der Priesterinnen einen nachtschwarzen Kimono. Sie war tief in Gebet und Meditation versunken, als drei Priesterinnen in ihr Zimmer traten und ihr einen Becher an die Lippen hielten. „Trink das.“, befahl ihr eine Stimme und Robin schluckte willenlos das bittere Getränk. Sie kannte den Geschmack. Bewusstseinserweiternde Kräuter. Auf ihren leeren Magen, wurde ihr von dem bitteren Saft übel. Alles drehte sich um sie und Robin erkannte kaum, wer ihr diesem magischen Trank eingeflößt hatte. Sie sah undeutlich drei Frauen. Sie trugen merkwürdige, schwarze Roben und Masken, die ihre Gesichter verhüllten. Jede der Drei besaß ein anderes Gesicht.
Kithana trug die Maske der Bastet, der ägyptischen, katzenköpfigen Göttin. Sie war eine Verkörperung Sechmets, der Göttin der Rache, des Krieges und des Schreckens. Senara trug eine Maske der Hathor, der kuhköpfigen, mit dem Vollmond gekrönten, ägyptischen Göttin der Liebe und Musik. Ianna trug eine Maske der Heqet, der ägyptischen Froschgöttin der Fruchtbarkeit.
Robin wurde mit den Worten „Erhebe dich, Tochter des Mondes, und folge uns“ angewiesen, den Ahnen der Alten Götter zu folgen. Sie erhob sich schweigend und lief hinter ihnen durch den dunklen Tempel. Es war totenstill. Durch ihr Fasten und den Trank waren Robins Sinne so geschärft, dass sie das Zirpen der Grillen vor dem Tempel hören konnte. Undeutlich wurde ihr bewusst, dass sie einen Weg einschlugen, der in einen Bereich des Tempels führte, den sie noch nie betreten hatte. Die Prozession verlangsamte schließlich ihr Tempo und hielt vor einer glänzenden Tür.
Erst dachte Robin, die Holztür würde wirklich leuchten, doch dann wusste sie, dass sie sie nur mit Hilfe des Gesichts so sah. In Wirklichkeit stand sie vor einer stinknormalen Tür, die der der anderen im Tempel ähnelte wie ein Ei dem anderen. Allein ihr inneres Auge zeigte ihr dieses Strahlen, das von der unglaublichen Macht ausging, die der Raum dahinter aussandte. Robin glaubte fast die Kraft des Raumes bis nach draußen fühlen zu können. Ihre Begleiterinnen, die die drei Aspekte der Göttin verkörperten, wie Robin nun wusste, wandten sich an sie.
Heqet fragte sie: „Bist du bereit, Tochter des Mondes, dich in den Strudel der Kraft zu begeben?“ Robin erwiderte fest: „Ich bin es.“ Hathor hielt eine silbern glänzende Schnur empor, Woher sie die wohl hatte?, und schlang sie um Robins Handgelenke, während sie sprach: „Und sie ward gebunden, wie es allen Lebenden geschehen muss, die das Reich des Todes betreten wollen.“ Sie schlang die Schnur auch um einen der Knöchel Robins und sprach: „Die Füße weder gebunden noch frei.“ Der Teil in Robin, der nicht in Verzückung der Mysterien geraten war, wurde von eisiger Furcht erfasst. Was wenn sie dich töten wollen, so wie damals zu Zeiten Boudiccas? Was wenn das Königreich des Todes das Schattenreich ist? Doch der Teil in Robin, der bereits Priesterin war, verbannte entschieden diese Zeichen der Schwäche. Es gehörte zu ihren Prüfungen, die Furcht zu besiegen.
Bastet zog nun einen Dolch mit gezackter Klinge hervor und trat zwischen Robin und die glänzende Tür. „Du, Tochter des Mondes, die du auf der Schwelle zu den erhabenen Mächten stehst, hast du den Mut, das Reich des Todes zu betreten? Der Ort, der jenseits der Zeit und Vorstellungskraft liegt, wo Geburt und Tod, Licht und Dunkel, Freude und Schmerz einander begegnen und eins werden?“ Sie richtete den Dolch fest auf Robins Herz, und ritzte ihr durch den Kimono leicht die Haut auf. Robins Herzschlag verschnellerte sich und Angst ergriff sie. Bei der Göttin, wollen sie mich töten? Robin rang mit sich selbst, während Bastet unerbittlich fortfuhr: „Denn wisse, es ist besser, du wirst von meinem Dolch getroffen und vergehst, als dass du den Versuch mit Furcht in deinem Herzen beginnst!“ Sie verstärkte den Druck und ein kleiner Blutstrahl rann über die Spitze des Dolches, als er Robins Brust aufritzte. Ich darf mich nicht fürchten., ermahnte Robin sich ernst. Furcht ist der Tod des Vetrauens. Und allein mein Vertrauen in die Göttin wird mich leiten. Ihre Angst verschwand und Robin antwortete fest: „Ich betrete den Raum mit vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen.“ Bastet senkte den Dolch und sprach: „So sei es. Betrete das Reich des Todes und finde deinen Weg zurück.“ Sie trat zur Seite und nahm neben den beiden anderen Priesterinnen Aufstellung. Robin wusste, sie würden hier auf sie warten, um sie zu begrüßen wenn sie es schaffte, oder sie zu verstoßen wenn sie scheiterte.
Robin nickte und atmete tief ein, ehe sie die Klinke hinunterdrückte und den Raum der Göttin betrat…

Robin sah sich um und stellte fest, dass sie sich nicht -wie angenommen- in einem Raum befand, sondern mitten in einem Wald stand. Zu beiden Seiten erstreckten sich riesige Bäume gen Himmel, auf dem Boden lagen gefallene Blätter und direkt neben ihren Füßen -die hier nicht wie in der wirklichen Welt von der Schnur gebunden, sondern frei waren- wanden sich stachelige Sträucher. Haselnuss. Doch irgendetwas stimmte nicht. Es war so still… Robin blickte nach oben und erschrak, als sie weder Sonne noch Mond entdecken konnte. Diese Welt schien von einem unheimlichen grauem Licht erhellt, das keiner sichtbaren Quelle entsprang. Es war, als leuchte die Welt in sich selbst.
Robin sah an sich herab und erkannte, dass auch sie in diesem Licht erstrahlte. Alles um mich ist Licht. Die Bäume sind Licht, die Blätter sind Licht. ICH bin Licht. Da hörte sie eine Stimme, die sagte: „So siehe dies ist die Eine Wahrheit. Alles Leben ist Strudel, ist Licht. Nichts existiert außer dieser Einen Wahrheit.“ Robin wagte kaum zu atmen. Dies ist das Mysterium. Nichts exisitiert in allen fomlosen Hüllen außer der reinen Wahrheit des Seins. Ich bin nicht wirklich, die Sträucher sind nicht wirklich. Wir existieren nicht, wir sind nur ein Lichtfunke im großen Kosmos des Seins.
Als Robin das erkannte, fühlte sie sich wie von Flügeln und Winden getragen. Sie war schwerelos und wurde in einem Fluss der Kraft mitgerissen. Sie fühlte ihren Körper schon lange nicht mehr. Sie war frei…

Robin schwebte an dem Wald vorbei und ihr war, als stehe die Zeit still. Alles um sie schien allmählich zu verschwimmen, als sei es Farbe die durch Wasser verlief. Robin fand sich in einem gläsernen Saal. Er pulsierte strahlender als alles, was Robin je gesehen hatte. Da hörte sie wieder eine Stimme die sagte: „Tochter der Ewigkeit, du fandest deinen Weg ins Zentrum des Lichts. Stelle dich nun den vier Elementen, aus denen alles besteht.“ Robin sah einen Weg vor sich. Er war so durchscheinend wie der Saal, in dem sie stand. Oder war der Saal sichtbar und sie durchscheinend wie Luft?
Robin folgte dem Pfad und hatte dabei das Gefühl, jeder Schritt ließ sie tiefer im Boden versinken. Es war, als gehe sie durch Schlamm. Über ihr sagte die Stimme: „Dies ist der Wille des Wassers.“ Und Robin versank bis zur Hüfte in dem nicht existierendem Treibsand. Er verwandelte sich in Wasser, das weich ihren Körper umfloss. Es durchnässte sie und Robin begann zu frieren, während das Wasser unaufhörlich anstieg. Es reichte ihr bereits bis zum Bauchnabel. Robin spürte, wie die Kälte des Wassers sie bis auf die Knochen durchdrang und sagte entschlossen: „Ich, die ich eine Tochter der Göttin bin, befehle dir zu verharren. Denn ich bin Strudel und Licht.“ Sie merkte, dass das Wasser sich in Luft auflöste und eine Stimme sagte: „Du fandest den Willen des Wassers, stelle dich nun dem Geist der Luft.“

Robin fühlte sich emporgehoben und eine leichte Brise kam auf. Die Brise wandelte sich in einen Sturm. Er zog und zerrte an Robins Haaren. Sie fühlte sich umhergestoßen durch die Kraft des Orkans. Mit fester Stimme sagte sie: „Ich, die ich eine Tochter der Göttin bin, befehle dir zu verharren. Denn ich bin Strudel und Licht.“ Augenblicklich senkte sich der Sturm hinab und es war vollkommen windstill. Die Stimme über ihr tönte: „Du fandest den Geist der Luft, stelle dich nun der Kraft der Erde.“
Kaum waren die Worte gesprochen, hatte Robin das Gefühl aus einer unendlichen Höhe zu fallen, so als habe man sie über eine Klippe gestoßen. Sie fiel und fiel. Schließlich landete sie an einem Ort, der wie eine Felsspalte aussah. Sie war gerade so groß, dass Robin darin stehen konnte. Doch das Gestein verwandelte sich in feste Erde und schlug über ihr zusammen wie eine Welle. Sie begrub Robin erbarmungslos unter sich. Robin kämpfte gegen die erdrückende Kraft der Erde an und schrie verzweifelt: „Ich, die ich eine Tochter der Göttin bin, befehle dir zu verharren. Denn ich bin Strudel und Licht.“ Sofort brach das Gebilde in sich zusammen und löste sich in Luft auf. Robin stand wieder frei. „Du fandest die Kraft der Erde, stelle dich nun der Macht des Feuers.“
Die Stimme verklang und Robin stand inmitten eines lodernden Feuers. Der Schmerz, der sie befiel, war einfach unerträglich. Vielleicht kennen einige von euch den Schmerz, der einen quält, wenn man als Kind einmal auf eine heiße Herdplatte fasste.
Doch Robin war nun vollends in Feuer eingehüllt. Sie glaubte, vor Schmerzen zu sterben. Sie schrie und rief mit zitternder Stimme: „Ich, die ich eine Tochter der Göttin bin, befehle dir zu verharren. Denn ich bin Strudel und Licht.“

Das Feuer erlosch und Robin weinte vor Erleichterung, den schrecklichen Qualen entkommen zu sein. Die Stimme über ihr sprach: „So wisse, dass deine Erkenntnis die Kraft der Elemente besiegt hast. Du bist die Tochter der Göttin, Nimue.“ Nimue? Trotz ihrer Verzückung und dem Einfluss der Drogen, konnte Robin relativ klar denken. Könnte am Adrenalinschub liegen. Warum nennt er mich Nimue? Ich heiße Robin. Erst später fiel ihr auf, dass Nimue kein Name war, sondern ein Titel. Er bedeutete „Jungfrau des Mondes“.
Die überirdische Stimme sprach: „Du hast die Prüfungen, die dir gestellt wurden, erfüllt. So komm zu MIR, Nimue, MEINE Tochter in Ewigkeit.“ Robin sah, wie sich vor ihr eine strahlende Lichtgestalt materialisierte. Sie war riesig und schien bis in den Himmel zu reichen. Robin sog laut die Luft ein, fasziniert von der Schönheit des Gottes. „Wer seid Ihr?“, hauchte sie verzückt und die überirdische Macht schrumpfte, wurde kleiner und kleiner, bis sie menschengroß war. Sie trug nun das Gesicht Galahads. Um seine Handgelenke wanden sich blau tätowierte Schlangen. „ICH bin der Gehörnte, der Jäger, der Königshirsch, der Herr des Waldes. ICH bin der Sohn der Göttin, ihr Bruder, ihr Gemahl, ihr König. Rein, ewig und unnahbar, wild, zärtlich und kraftvoll, wissend und voller Licht. In der Welt manifestiere ich mich als Taliesin, der Merlin.“ Robin starrte voller Verzückung auf das göttliche Wesen. „Was wollt Ihr von mir?“
Der Gott lächelte geheimnisvoll und erklärte schlicht: „Dich weihen, meine Tochter, Gemahlin und Schwester.“ Robin glaubte den Verstand zu verlieren. „Aber…“, protestierte sie schwach. „Ich diene allein der Göttin. SIE ist meine Herrin.“ Der Gott streckte den strahlenden Arm nach ihr aus. „Aber ICH bin die Göttin, so wie wir alle die Göttin in uns tragen. Auch du. Denn wisse, dies ist die zweite höchste Wahrheit: Alle Götter sind Ein Gott und alle Göttinnen sind die Aspekte Der Einen Göttin – es ist egal, unter welchem Namen wir IHN rufen. Jeder hat das Recht auf den Gott, der durch ihn spricht.“ Robin musste diese Erkenntnis erst verarbeiten. „Es gibt keine Göttin.“, sagte sie wie zu sich selbst. „Ich allein bin die Göttin, und wenn ich SIE suche, muss ich SIE in mir selbst finden.“ Der Gott trat zu ihr und hob ihr Kinn, sodass sie IHM in die Augen sehen musste. Sie waren so rein wie das Feuer und in ihnen spiegelte sich das gesamte Universum. Robin glaubte, gleich vor Sehnsucht und Verlangen zu verbrennen, wenn sie noch einen Moment in diese Augen blickte. ER sagte sanft: „Hiermit seist du als Priesterin der Großen Göttin Ceridwen geweiht.“ Und küsste sie.
Robin schloss die Augen und gab sich ganz den Zärtlichkeiten des Gottes hin. Als er ihren Hals mit Küssen bedeckte und sie sanft auf den gläsernen Boden zog, wurde sich Robin undeutlich bewusst, dass sie nackt war. Wo habe ich meine Kleidung gelassen? Und unwirklich wie in einem Traum nahm Robin wahr, dass das überirdische Wesen langsam ihre Beine spreizte und in sie drang. Plötzlich erwachte etwas in ihr, als würde die Heiligkeit des Gottes sie läutern, zum Leben. Etwas, von dem sie nie wusste, dass es da gewesen war. Robin fühlte, dass ihr Bewusstsein sich veränderte und sich dem Göttlichen öffnete. Das Wissen der Welt überflutete ihren Geist und Robin fühlte sich nicht mehr als Frau, sondern als Priesterin. Unter den Stößen des Gottes wurde ihr Körper zur Brücke zwischen den Welten, der die Erde mit dem Himmel verband. Oder war sie bereits immer diese Brücke gewesen, und sich dessen nur nicht bewusst?
Robin spürte, wie die Mächte des Kosmos durch ihren Körper rauschten. Robin war nun nicht mehr Robin, sondern Nimue, die Jungfrau der Göttin, ihre ewige Priesterin und ihre Dienerin, ihre Schwester und ihre Tochter. Das göttliche Wesen über ihr bewegte sich schneller und flüsterte, ehe es sich in sie ergoss: „Du bist die Göttin, Nimue.“
Robin spürte eine Woge der Macht, so als würde sich das keimende Leben seines Samens in ihr öffnen. Sie schrie vor Verzückung auf und wusste, ehe sie ins Dunkel der Ohnmacht stürzte, dass sie nun eine wahre Priesterin war…

„Ich habe ihren Schrei gehört. Sie muss aus dem Reich des Todes zurückgekehrt sein.“, sagte Kithana und öffnete die Tür zum Raum der Macht. Es war eine kleine dunkle Kammer, gerade groß genug, dass drei Menschen darin nebeneinander stehen konnten. Robin lag leblos auf dem kalten Steinfußboden. Ihre starren Augen zeigten den Abglanz des Göttlichen. Kithana ging zu ihr und beugte sich prüfend über sie. Die Weise fühlte ihren Puls und sagte schließlich, an Senara und Ianna gewandt: „Sie hat überlebt.“

Kapitel XX – Die neue Macht
Sieben Tage und sieben Nächte schlief Nimue. Es war seit jeher der Fluch der Magie, dass sie dem Körper die benötigte Wärme und Energie entzog und ihn so schwächte. Auch Nimue musste nun diese Erfahrung machen, denn nach ihren Einsichten im Reich des Todes, war sie so schwach, dass sie nicht einmal die Augen öffnen konnte.
Am Ende des siebten Tages endlich, war sie kräftig genug, sich mit einem verwirrten Blick der Welt um sie bewusst zu werden. Sie lag in ihrem Zimmer der Jungfrauen und in ihrem Kopf hallte noch immer der Kosename des Gottes wider. Nimue…
„Nimue.“ Als sie den Namen hörte, hielt sie ihn anfangs für den Nachklang ihres Traumes, doch dann bemerkte sie, dass eine Frau neben ihr im Schatten saß und sie rief. Sie blinzelte, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und richtete ihren Blick in die Richtung, wo die schemenhafte Figur auf einem Hocker saß. „Ja, Mutter?“ Auch ohne genau hinzusehen wusste Nimue, dass es Morgaine war, die sie aus der Dunkelheit musterte. Erst jetzt fiel ihr ein, dass niemand außer ihr selbst ihren neuen Titel kannte, und sie fragte sich wundernd: Woher kennt sie meinen Namen?
„Ich freue mich, dass du lebend aus dem Reich des Todes zurückgekehrt bist.“ Ihre melodische Stimme erfüllte den Raum. Sie beugte sich etwas vor und das Gesicht der Hohepriesterin wurde von dem Kerzenlicht ihrer Menora erhellt, sodass Nimue sie endlich ansehen konnte. „Ich danke Euch.“ Nimue wusste, mehr war nicht zu sagen. Die Priesterin vor ihr hatte auch die Ekstase des Göttlichen erblickt und es war nicht nötig, darüber zu sprechen. Sie verstanden einander ohne Worte.
„Mutter?“, fragte Nimue sie und ihre Stimme klang nachdenklich. „Du willst wissen, weshalb ich deinen neuen Namen kenne, nicht wahr?“ Nimue nickte. Nachdem sie einmal als Brücke zwischen den Welten fungierte, wunderte es sie nicht mehr, dass Morgaine ihre Gedanken las. Die Hohepriesterin lächelte. „Auch ich wurde initiiert, Nimue. Und erhielt von IHM, dessen Antlitz unendlich ist, meinen neuen Namen. Jede Priesterin empfängt bei ihrer Einweihung einen neuen Namen. Den Namen der Ewigkeit, der ihrem tiefsten Wesen entspricht und sie schon in jedem vorherigen Leben begleitete. Es ist ihr neuer Titel als Priesterin der Göttin.“ Nimue hob den Blick und sah in die durchdringenden Habichtaugen der Priesterin. Ja, auch ihr Name ist alt wie die Zeit. Morgan… die Frau, die aus dem Meer kommt. Die Hohepriesterin nickte bestätigend, so als habe Nimue etwas gesagt. „So ist es, Jungfrau des Mondes. Ab heute wirst du in diesem Tempel und immerdar, den Namen Nimue tragen.“ Es klang wie eine Prophezeihung und Nimue senkte ehrfürchtig den Blick. „So sei es.“

Als Nimue, die einst Robin gewesen war, den Saal der Templerinnen betrat, fühlte sie sich als neuer Mensch. Das alte Sprichwort fiel ihr wieder ein: Der Name eines Menschen ist seine Identität. Und sie lächelte. Sie hatte es endlich verstanden. Genau so ist es, und so wird es auch immer sein.
Nimue durchquerte den Raum, wohlwissend, dass ihr die Blicke aller Priesterinnen folgten. Sie spürte sie in ihrem Rücken wie bohrende Stacheln. Sie fragte sich was sie wohl sahen. Eine inkarnierte Priesterin? Die wiedergeborene Dienerin der Göttin? Oder einfach nur eine junge Frau, die durch das Ritual der Einweihung gereift und verändert war, und deren Blick vor Weisheit und Liebe strahlte?
Nimue hatte das Ende des Saales erreicht und sah mit einem kurzen Blick -der sowohl Aufregung als auch Ehrfurcht enthielt- auf die Holzbahre, an deren Kopfende Senara kniete. In ihren Händen hielt sie ein altes, steriles Handwerksgerät, das einem Hammer mit Nadel ähnelte, und eine Schale mit blauem Kobalt. Nimue verbeugte sich vor Mutter Morgaine und diese hob segnend die Arme. „Du, Nimue, Jungfrau des Mondes, die du aus dem Reich des Todes zurückgekehrt bist, empfange nun den Segen der Göttin.“ Sie bedeutete der Aspirantin mit einer Geste, sich rücklings auf die Holzbahre zu legen.
In dem Saal breitete sich augenblicklich Stille aus, als Nimue sich auf der Liege niederließ, um das Zeichen der Göttin zu erhalten. Außer ihrem Herzschlag und dem Atem der Priesterinnen drang kein Laut an ihr Ohr. Nimue schloss die Augen und spürte, dass eine vertraute Wärme ihre Hand ergriff. Zaida. Nimue lächelte über diese Fürsorglichkeit und atmete tief ein, als sie Senaras leise Stimme vernahm: „Bist du bereit?“ „Ich bin es.“, antwortete sie fest und kein Schrei entrang sich ihren Lippen, als sie tapfer die blaue Halbmondtätowierung zwischen den Augenbrauen erhielt, die sie für jederman sichtbar zur Priesterin machte.

Nimue hatte Glück. Es gab keine Komplikationen und das Zeichen verheilte schnell. Bereits nach einer Woche ließ der Schmerz nach und die Röte ging zurück. Zaida, die seitdem immer an ihrer Seite war, untersuchte die Wunde und meinte mit einem teilnahmsvollen Lächeln: „Wenn keine Probleme auftreten, ist das Zeichen in drei Tagen abgeschwollen.“
Nachdem sichergestellt worden war, dass es Nimue gesundheitlich gut ging, durfte sie erstmalig ihren Dienst als Priesterin aufnehmen. Dabei gehörte es zu ihren Pflichten, jede Abteilung des Tempels zu passieren, denn als Priesterin musste sie mit allen Gebräuchen des Heiligtums vertraut sein. Zuerst wurde sie Senara unterstellt, der vorsitzenden Hand der Göttin, die ihr den Halbmond tätowiert hatte. Hier lernte sie wie man Stoffe spinnt und färbt, wie man die herrlichen Priesterinnengewänder fertigte und wie man durch die Magie des Webens Zauber- oder Bannsprüche in die Gewänder miteinarbeiten konnte, um so die Wirkung zu verstärken.
Danach führte sie ihr Weg zu Ianna, dem leitenden Ohr der Göttin, wo sie lernte, die heiligen Instrumente zu spielen: Harfe und Leier. Diese Übungen bereiteten Nimue die meiste Mühe, denn sie war vollkommen unmusikalisch. Doch mit Iannas Mütterlichkeit und Elaines Ruhe, erlernte Nimue sogar die Magie der Töne, um mit Hilfe von Musik die Zauber noch wirksamer zu machen, und schaffte es, einige Lieder auf Harfe und Leier zu spielen – wenn auch etwas schräg.
Ihre nächste Aufseherin war Kithana, Weise der Göttin, und die repräsentative Bastet bei Nimues Initiation. Zusammen mit Lhiannon erfuhr Nimue hier, unter Kithanas Lehren, alles über die Magie der Weisheit. Sie lernte, wie sie mit den bei ihrer Initiation offenbarten Weisheiten zurechtkommen und sie in ihr Leben integrieren konnte, wie sie sich selbst und ihre Mitmenschen als Priesterin zu behandeln und zu führen hatte, und wie sie die Innersten Wahrheiten auffassen und verstehen sollte. Hier lernte Nimue alles über die Weisheit, welche die größte Tugend einer Priesterin war…
Danach führte sie ihr Weg zu Mutter Morgaine, Hohepriesterin des Ordens und Stimme der Göttin. Als Vorsitzende der Augen der Göttin lehrte sie sie den Gebrauch des Gesichts. Nimue lernte, Das Gesicht zu rufen und sich an die Bilder zu erinnern, sie erfuhr, wie sie einen Blick in Zukunft und Vergangenheit werfen konnte, und wie sie mit Hilfe des Gesichts die Gedanken ihres Gegenübers, und später eines beliebigen Lebewesens, zu lesen vermochte.

Bei Zaida, ihrer Mentorin und Stimme der Göttin, wurde Nimue danach im Gebrauch ihrer neuen Fähigkeiten unterrichtet und wie sie damit umzugehen hatte. Sie lernte, ihre eigene innere Kraft zu nutzen und nur im Notfall auf gelernte Zaubersprüche zurückzugreifen. Sie erfuhr, wie sie ihre Gaben gebrauchen und sie zum Heilen nutzen konnte, denn Zaida war nicht nur Stimme der Göttin, sondern auch Lichtkörperheilerin. Sie lernte Nimue die wichtigsten Chakrazenten und ihre Behandlung, die heilende Kraft durch Handauflegen und das Erkennen der Aura eines Menschen. Dabei stellte sie wieder erstaunt fest, wie lernfähig Nimue war. Kaum hatte sie sie eine Heilungstechnik gelehrt, war Nimue in der Lage sie fast korrekt wiederzugeben.
Einmal, als Zaida ihr gerade die verschiedenen Aurafarben erläuterte und Nimue bat, ihre Aura zu beschreiben, konnte Nimue sie auf Anhieb wiedergeben. Sie musterte sie nur einige Augenblicke kritisch, ehe sie sprach: „Deine Aura besitzt die weiße Farbe der Lilie. Du bist klug und gerecht, ehrlich und wirst keinen betrügen. Du stehst unter göttlichem Schutz, denn weiß ist das Symbol der Unschuld und Reinheit.“ Zaida war daraufhin sprachlos, denn sie musste sich eingestehen, dass sie selbst es nicht hätte besser und prägnanter erklären können. „Das ist absolut richtig, Nimue.“, antwortete sie verblüfft und fragte dann: „Und welche Aurafärbung ist Zeichen der Mütterlichkeit?“ Nimue legte den Kopf schief und sagte nach einigem Überlegen sicher: „Es ist die Farbe Braun. Das Braun der Erde und des Bodens. Die Heiligkeit, das Mütterliche und das Erwärmende; das Symbol der Beständigkeit.“

Zaida lächelte strahlend. „Du hast Recht, Nimue. Genau so ist es. Ich glaube, nun hast du das Aurasehen und die Bedeutung ihrer Farben vollends verstanden.“ Nimue lächelte ebenfalls und schlang die Arme um die angezogenen Knie, während sie auf dem weißen Marmorboden der Tempelhalle saß und Zaida ihr gegenüber Platz genommen hatte. „Mutter Zaida.“, lenkte sie dann mit nachdenklicher Stimme ein. „Ja, meine Tochter?“ Nimue hob den Blick und begegnete den grauen Augen Zaidas mit purer Offenheit. „Ich frage mich… nun ja… nun, wo ich die Lehren der Weisheit erfuhr und die Magie des Webens und der Töne. Und nachdem ich Das Gesicht zu beherrschen und rufen lernte, und von dir alles über das Heilen und die Sichtweise der Aura gelernt habe, wäre es da nicht an der Zeit mich die Macht der Elemente zu lehren?“
Einen Moment presste Zaida die Lippen aufeinander und Nimue bekam schon einen Schreck, ihre Mentorin tödlich beleidigt zu haben, da klärte sich plötzlich ihr Blick und sie sagte lächelnd: „Ich dachte mir, dass du mich das fragen würdest, meine Tochter.“ Sie erhob sich mit einem Seufzer. „Folge mir.“

Kapitel XXI – Der Tempelgarten
Zaida führte Nimue hinaus in den Tempelgarten. Den gesamten Weg sprach keine von beiden auch nur ein Wort. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Kurz nachdem Nimue Zaida ins warme Sonnenlicht gefolgt war, holte sie tief Luft. Sie glaubte zu träumen, als sie das üppige Paradies der Anlage erblickte. So etwas Wunderschönes habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Der Garten gleicht eher dem Garten Eden, als einem schlichten Tempelgarten…
In der Mitte der von dicken Steinmauern umrahmten Grünanlage befand sich ein glatt gemähter Rasen, auf dessen Grün sich bunte, zwitschernde Vögel tummelten. Zu beiden Seiten der Mauern wuchsen üppige Blumen in allen erdenklichen Farben und Formen, und verbreiteten einen aromatischen Duft. Es gab Rosen, Orchideen, exotische Zitrusfrüchte, Clivien, Ritterstern und Lillien. Efeu rankte sich über die brüchigen Steinmauern, Flamingoblumen, Usambaraveilchen und andere Sommerblüher setzten bunte Akzente. Glockenblumen reihten sich an Azaleen, Erika an Enzian und Johanniskraut an Ringelbumen und Stiefmütterchen. Krokosse und Osterglocken wuchsen neben den gesetzten Marmorbänken, und selbst einige Kakteenarten erblickten das Sonnenlicht. Nimue fand es einfach atemberaubend schön. Doch eines stach besonders ins Auge: Der Badetempel in der Mitte des Gartens.

„Was ist das, Zaida?“ Nimue blickte starr vor Entzücken auf die Marmorsäulen des überdachten Teiches, welcher von Kletterrosen umrahmt war, und auf dessen Grund schillernde Mosaike gesetzt worden waren. Heiße Steine sorgten Tag und Nacht für erholsame Baderuhe.
„Dies ist unser geheimer Nixenplatz.“, erklärte die Ältere und hob den durchsichtig schillernden Vorhang zur Seite, um unter die strahlenden Steinsäulen zu treten und ihre nackten Beine genüsslich ins warme Quellwasser zu tauchen. „Hier entspannen wir uns von unseren priesterlichen Pflichten und genießen die Schönheit, welche uns die Göttin zuteil werden ließ.“ Wie auf ein Stichwort landete eine Amsel neben ihnen am Rand des Teiches und begann zu singen. Nimue lachte und ließ sich neben Zaida nieder, um ebenfalls die Wärme des Wassers zu genießen.
Während sie mit ihren Beinen im Wasser kreiste, fragte Nimue plötzlich ernst: „Weiß das Volk eigentlich von dieser Quelle? Soweit ich infomiert bin, besitzen sie keinen anderen Badeort als den Drachensee.“ Irgendwie kam sie sich schuldig vor, weil sie diesen Luxus des eigenen Badetempels erleben durfte und die anderen nicht. Zaida öffnete die Augen und ihr Blick wurde streng. „Nein. Und das wird auch immer so bleiben.“ Ihr Ton duldete keinerlei Widerspruch. „Was denkst du was passieren würde, wenn das Volk es erfährt? Wir könnten nie mehr in Ruhe unsere freie Zeit genießen, weil ständig jemand unsere Quelle missbraucht! Sie ist nicht ohne Grund hier auf unserem Tempelgelände erbaut worden. Es war der Wille der Göttin, uns diesen Luxus zu schenken – und nicht dem Volk.“
Sie klingt richtig arrogant und egoistisch, wenn sie so redet., dachte Nimue nüchtern und fragte beinahe emotionslos: „Weiß der König davon?“ Zaida nickte. „Ja, und er hat nichts dagegen, was meinen Kerngedanken bestätigt, dass allein uns diese Quelle zusteht.“ Sie ballte die Fäuste, als sie weitersprach: „Er weiß, wie dringend wir diese Form der Entspannung nötig haben. Schließlich schuften wir den ganzen Tag und laugen unseren Körper durch die Beanspruchung der Magie aus, da haben wir uns eine heiße Quelle wahrlich verdient! Was tun die anderen Bewohner denn schon? Wissen sie auch nur ansatzweise, welche Arbeit und Verantwortung wir auf den Schultern tragen? Wir allein sind das Herzstück dieser Insel, hörst du? Der König weiß das. Deshalb macht er uns diesen Tempel auch nicht streitig.“ Sie schwieg, doch Nimue spürte ihren brodelnden Zorn, wie ein Grollen in ihrer Magengegend. Ich wusste nicht, dass sie ihre Pflicht hier so mitnimmt. Sie scheint völlig fertig zu sein. Es ist bestimmt nicht leicht, stellvertretende Hohepriesterin zu sein. Nein, wahrlich nicht.

Plötzlich war Nimue unendlich dankbar, nur eine normale Priesterin zu sein und nicht die Last der Verantwortung tragen zu müssen, die Zaida zu tragen hatte. „Zaida?“, fragte sie leise und die Angesprochene hob den gequälten Blick. „Ja, Nimue?“ Ihre Stimme klang nicht mehr zornig, sondern nur noch schwach. So entkräftigt und schwach…
Nimue ergriff ihre Hand und drückte sie. „Ich…“ Sie rang um die richtigen Worte. „Ich verstehe dich.“ Zaida lächelte und Tränen traten in ihre unendlich grauen Augen. Sie wusste, was Nimue ihr auf ihre mitfühlende Art damit sagen wollte. „Ach, Nimue.“ Zaida lächelte traurig und eine Träne rollte über ihre Wange. Eine Weile rang sie mit sich selbst, dann schluchzte sie auf und warf sich in die Arme Nimues. Die Priesterin schloss die Arme um sie und drückte Zaida fest an sich. „Es ist schon gut, meine Schwester, schon gut.“ Liebevoll strich sie ihrer Mentorin über den vom Weinen zuckenden Rücken. Sie wusste, nun wo sich Zaida ihr erst einmal geöffnet hatte, würde es lange dauern, ehe sie wieder würde aufhören können.
Zu lange schon hat sie diese Last allein getragen… die Arme. Seit Jahren opfert sie ihre Energie, um ihren Dienst an der Göttin zu verrichten, aber niemand hat SIE einmal gefragt, ob sie nicht eventuell Hilfe brauchen könnte. Außer Mutter Morgaine, trägt keine hier eine so schwere Bürde wie Zaida. Kein Wunder, dass sie irgendwann am Ende ihrer Kräfte steht. Wie konnte sie das nur vor uns verheimlichen? Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hat… Arme Zaida. Also hielt sie die Ältere einfach ruhig in den Armen, und genoss die traute Zweisamkeit, während sie ihr wortlos übers lockige Haar strich. Die Lehren der Elemente hatte Nimue ganz vergessen…

Nach einer dreiviertel Stunde seufzte Zaida schließlich tief und löste sich von Nimue. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen und ihre Nase gerötet, doch Nimue spürte die Erleichterung in ihrem Inneren, so als habe man sie von einer schweren Last befreit, die sie einst in Ketten hielt. „Ich danke dir, Nimue. Du glaubst ja gar nicht, wie gut das tat, sich endlich einmal alles von der Seele zu laden. In letzter Zeit dachte ich schon, dass ich unter diesem Druck die Kraft verliere. Du hast ja keine Ahnung, wieviel Verantwortung ich zu tragen habe. Doch du hast mir meine Energie wiedergeschenkt. Wie kann ich dir nur je dafür danken?“
Sie strahlte und umarmte die Jüngere dankbar. Nimue lächelte und erwiderte sanft: „Aber ich möchte gar keinen Dank von dir, Zaida. Dir geholfen zu haben ist für mich Geschenk genug.“ Sie strich ihr über die von Tränen genässten Wange. „Schließlich bist du wie eine Schwester für mich. Ich bin froh, dich von der angestauten Last befreit zu haben. Wirklich.“ Zaida nickte. Sie trocknete ihre Tränen und als sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete, war sie bereits wieder die erhabene Priesterin, die Nimue kannte und liebte. Mochte es ein Trick der Priesterinnen sein oder nicht.

Kapitel XXII – Das gelüftete Geheimnis
Am nächsten Morgen wurde Nimue von ihrer Tempeldienerin Pendra geweckt, als diese sie wiederholt an der Schulter rüttelte. Als die Priesterin nicht reagierte, kniff Pendra sie kess in die freie Haut über dem Schlüsselbein.
„Autsch!“ Nimue öffnete die Augen und rieb sich die schmerzende Schulter. „Was ist denn passiert?“ Sie richtete sich noch etwas benommen auf und erblickte ihre Tempeldienerin, die die Arme vor der Brust gekreuzt hatte und ein höchst beunruhigend aussehendes Gesicht machte. „Ich sollte Euch wecken, Mylady. Der König wünscht Euch unverzüglich zu sehen. Der Bote seiner Majestät betonte, dass es sich um eine höchst wichtige Angelegenheit handele. Ihr müsst sofort aufbrechen!“, artikulierte sie in der Gebärdensprache. „Was?“ Nimue war nun vollends wach. Warum wollte der König sie denn jetzt sehen? Hatte sie etwas verbrochen, ohne sich dessen bewusst zu sein?
Schnell warf sie die Bettdecke von sich und sprang aus dem Bett. Sie befreite sich von ihrem Nachthemd und schlüpfte in das weiße Gewand der Jungfrauen, während Pendra ihr in aller Eile die Haare flocht. Erst als Nimue fertig angezogen vor ihrer Zimmertür stand, kam ihr der Gedanke, dass ihre Ausbildungszeit noch nicht vollendet war. Sie war zwar zur Priesterin geweiht, doch noch nicht in allen Punkten der Priesternschaft integriert worden. Selbst das nachtblaue Gewand der geweihten Priesterin war ihr noch nicht verliehen worden. Sie durfte den Tempel noch gar nicht verlassen!

Erschrocken blieb sie stehen, sodass Pendra, die direkt hinter ihr gelaufen war, gegen sie stieß. „Oh Herrin, das habe ich ja ganz vergessen!“ Nimue drehte sie blitzschnell zu ihrer Tempeldienerin um, sodass diese zurückwich und beinahe das Gleichgewicht verlor. „Pendra,“ sagte sie streng. „Ich darf den Tempel doch noch gar nicht verlassen, um der Audienz des Königs beizuwohnen. Meine Ausbildung ist noch nicht beendet!“ Pendras Gesichtszüge hatten sich bei Nimues ersten Worten gespannt, doch nun lächelte sie. „Herrin, macht Euch darüber keine Sorgen.“, winkte sie ab.
„Mutter Morgaine gab Euch eine Sondergenehmigung, um den Tempel verlassen zu dürfen. Sie sagte, wenn der König Euch jetzt sprechen wolle, dann wäre dies ein Zeichen, das wir nicht ignorieren dürfen. Schließlich geschehe nichts ohne Grund. Auch dies hier nicht, Herrin. Also seid unbesorgt.“ Erstaunt sah Nimue ihre Freundin an. War das wahr? Mutter Morgaine ließ sie also einfach so vor Ablauf der Zeit gehen? Höchst merkwürdig. Auch wenn Nimue es sich nicht erklären konnte, so durchfuhr sie doch ein Gefühl der Unruhe und Spannung. Sie wusste, das es sich hier um mehr als nur eine normale Audienz beim König handelte, mochte die Ausrede der Hohepriesterin noch so geschickt sein. Wenn da mal nicht mehr dahintersteckt.
Pendra musterte sie noch immer fragend, also zwang sich Nimue zu einem entschuldigendem Lächeln und verbarg ihren Gefühlstumult hinter einer perfekten Fassade. „Es tut mir Leid, Pendra. Ich war nur in Gedanken. Lass uns aufbrechen.“ Doch während sie gemeinsam den Tempel durchquerten, wurde Nimue das Gefühl nicht los, in etwas Geheimnisvolles vorzustoßen.

Es war noch Nacht, als Nimue und ihre Gefährtin den Tempel verließen. Die Herrin Luna stand im Zenit am azurblauen Himmel, doch eine allmähliche Graurosafärbung am Horizont kündigte bereits den nahen Sonnenaufgang an. Bald, so dachte Nimue. Wird Zaida mit ihrer Pflicht als Sonnenpriesterin fünf Uhr beginnen, und Atons strahlendes Antlitz mit Lobgesang und Gebet begrüßen. Wie es ihm gebührt. Bei diesem Gedanken breitete sich ein wohliges Prickeln in ihrem Körper aus, das sie jedes Mal befiehl, wenn sie an die Mysterien der Tageszeitenrituale dachte. Sie lächelte kaum merklich, während sie den Weg zum Palast des Schutzherrn vom Drachensee beschritten.
Unterwegs begegneten sie keiner Menschenseele, die Stadt schien wie ausgestorben. Selbst am Palasteingang trat ihnen kein Wachposten in den Weg um sie zu fragen, was sie denn hier tue. Nimue bekam mehr und mehr das Gefühl, sich auf unebenen Boden vorzuwagen – unsicher und voller Gefahren. Warum nur wurde sie die Ahnung nicht los, dass sie hier in etwas Geheimnisvolles geraten war? Etwas Größeres als die normalen Audienzen beim König. Etwas Größeres selbst als alle Mysterien der Priesternschaft. Was wollte der König nur von ihr?

Nimue war so in Gedanken und Spekulationen versunken, dass sie fast gegen die blattgoldene Tür des Thronsaals gestoßen wäre, hätte Pendra sie nicht unsanft zurückgehalten, indem sie sie am Kragen ihres Gewandes festhielt. Nimue wurde die Kehle zugeschnürt und sie kam wieder zu sich. Keuchend griff sie sich an den Hals und riss Pendras Hand los. „Was zum…?“ Ihre Tempeldienerin musterte sie nur mit einem Ausdruck vollkommener Gleichgültigkeit. Als käme es jeden Tag vor, dass sie Nimue fast erwürgte…
„Ich wollte Euch nur mitteilen, dass wir uns vor dem Thronsaal des Königs befinden, meine Herrin. Ihr wart so in Gedanken, dass Ihr es nicht bemerkt zu haben schient, also sah ich mich gezwungen Euch zu wecken – diese Art, so dachte ich mir, mag nicht die zarteste sein, doch sie hat Euch wenigstens schnell wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Verzeiht, wenn ich Euch verletzt haben sollte, Herrin. Es lag nicht in meiner Absicht, ich wollte Euch nur die rücksichtslose Peinlichkeit ersparen, einfach unangekündigt in den Thronsaal des Königs zu stolpern…“ Pendras Gebärdenzeichen verstummten und sie ließ die Hände sinken.
Nimue wusste nicht ganz, was sie davon halten sollte. Irgendwie, ohne es sich erklären zu können, kam sie sich in diesem Moment ziemlich verarscht vor, doch -sie konnte sich nicht helfen- auch dankbar, dass ihre Dienerin ihr diese Blamage erspart hatte.
Wie sehr sie es auch drehen mochte, das Ganze war ziemlich kompliziert. Doch es passte in seiner Merkwürdigkeit perfekt zu den Ereignissen des bisherigen Tages, also zuckte Nimue nur die Achseln. „Lass gut sein, Pendra. Das Ganze ist mir wirklich zu kompliziert. Ich danke dir nur, dass du mich vor einer deftigen Beule bewahrt hast, und wir vergessen es einfach. Einverstanden?“ Ich habe so wahrlich schon genug Probleme, da muss ich mir nicht auch noch über diesem komischen Zwischenfall Gedanken machen. Pendra nickte und machte ein zustimmendes Zeichen. „Gut.“ Nimue drehte sich um und klopfte dreimal an die herrlich vergoldete Tür.

„Nur herein, meine Tochter.“ Die einladende Stimme des Schutzherrn vom Drachensee drang durch das zweitpfortige Tor. Nimue gehorchte und trat ein, während Pendra ihr in einigen Metern Abstand folgte. Wie es sich gehörte.
„Ihr habt mich rufen lassen, Eure Hoheit.“ Es klang, sosehr es Nimue auch zu verhindern versuchte, unverschämt nach einer lauernden Frage. Der König lächelte. Und es wirkte weder verärgert, noch überrascht. Beinahe so, als habe er ihre Verblüffung erwartet. Doch mal ehrlich: Wer hätte das nicht, wenn er mitten in der Nacht geweckt und durch ein leergefegtes Dorf zum König gebracht worden wäre?

„Ja, das habe ich wahrlich, Nimue. Bitte, tritt näher und lass uns eine Partie Schach miteinander spielen. Meine Tochter erzählte mir von Euren hervorragenden Können in diesem Gebiet. Ich verspreche Euch, dass sich all Eure Fragen klären werden.“
Er erhob sich feierlich und deutete auf das aufgestellte Schachbrett vor dem Thron. Es war dasselbe, auf dem Nimue bereits die Prinzessin geschlagen hatte. Nimue öffnete den Mund, um zu protestieren. Warum Zeit mit unsinnigen Spielchen verplempern, wenn der König ihr doch anscheinend etwas Wichtiges mitzuteilen hatte? Und warum erwähnt der König gerade jetzt meine Schachkenntnisse? Ist das ein Hinweis darauf, dass Prinzessin Samt ihm von unseren damaligen Theologiegesprächen erzählt hat? Ist DAS der Grund, warum ich hierher gebracht worden bin? Möchte der König mich wegen meiner heidnischen Weltanschauung tadeln? Was sind seine Hintergedanken bei diesem Plan?
Doch sie besann sich anders und beschloss, der Sache nachzugehen und sich auf das Spiel einzulassen. Lächelnd ließ sie sich auf dem hohen Eichenstuhl nieder. „Sehr gern, Eure Majestät.“

„Ich habe Euch nicht ohne Grund zu mir gebeten, Nimue.“, erklärte der König nach einer Weile schweigenden Spielens. Nimue blickte überrascht vom Schachbrett auf. „Weshalb denn, Eure Hoheit?“ Der gütige Ausdruck im Gesicht König Lionels wurde hart und sein Blick wandte sich unversehens Pendra zu. „Könnt Ihr ihr vertrauen, Nimue? Was ich zu sagen habe, ist nicht für die Allgemeinheit bestimmt.“ Das erklärt, weshalb er mich bei Nacht und Nebel hierher beordert hat. Hey, Moment mal… Im ersten Moment war Nimue sprachlos. Wie konnte er ihre Tempeldienerin beschuldigen nicht loyal zu sein? Bis jetzt war sie immer stets hilfsbereit und vertrauenswürdig gewesen. Doch dann wurde ihr klar, dass das Geheimnis des Königs sehr ernst sein musste, deshalb erstickte sie ihre Empörung und antwortete, nach einem liebevollen Blick zu Pendra: „Eure Majestät, ich versichere Euch, dass Ihr vor Pendra unverwandt sprechen könnt. Sie ist diskret und verschwiegen.“ Wenn er wüsste wie sehr., ergänzte sie bitter. „Und ich würde ihr mein Leben anvertrauen.“
In diesem Augenblick, fiel Nimue wieder der kurze Vorfall vor der Palasttür ein. Wie in Zeitlupe sah sie visionär, wie Pendra sie am Kragen ihres Kleides fasste und fest daran zog, sodass es ihr durch die Wucht die Luft abschnürte. Unwillig schüttelte sie den Kopf, um die Vision zu vertreiben, doch es durchzuckte sie wie ein Blitz: Pendra hätte mich töten können. Diese Erkenntnis war so stark, dass Nimue fast glaubte, spüren zu können, wie es ihr langsam die Luft aus den Lungen presste. Was um alles in der Welt sollte das bedeuten? Warum war ihr dieser Moment genau jetzt vor Augen geführt worden? Sollte Pendra sich als Verräterin entpuppen?
Nimues Blick wanderte zu ihrer Tempeldienerin, die links schräg hinter ihr stand und sie beobachtete. Ihr warmer Blick, das ermutigende, teilnahmsvolle Lächeln, die daumenumschließenden Finger. Diese Frau liebte sie von Herzen. Niemals würde sie ihr ein Leid antun. Das wusste Nimue so sicher, wie sie wusste, dass Pendra sie hätte töten können. Doch sie hat es nicht getan.

„Wenn Ihr euch dessen sicher seid, so will ich es Euch mitteilen, Nimue.“ Die Stimme des Königs weckte Nimue aus ihren Tagträumen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. „Ihr weilt nun bereits seit fünf Monaten in der Priesternschaft.“ Sein Blick wanderte zu dem blauen Halbmond auf ihrer Stirn. „Übrigens möchte ich Euch auf diesem Wege noch einmal herzlich zu Eurer Initiation gratulieren.“ Er lächelte und beugte sich zu ihr vor, um mit der Fingerkuppe sanft über das Symbol der Priesterin zu fahren. Leicht wie ein Windhauch. Nimue spürte ein Kribbeln an der berührten Stelle, kaum, dass der König sie wieder losgelassen hatte. Sie registrierte es erstaunt, ließ sich jedoch nichts anmerken.
„Ich hätte bereits früher meine Freude darüber kundtgetan, doch ihr werdet isoliert wie ein Goldfisch im Glas.“ Ein raues Lachen entrang sich seiner Kehle und Nimue schmunzelte, ehe sie zum Schlag ansetzte. „Ich danke Euch, Eure Hoheit. Ich gebe ehrlich zu, dass es mich etwas erstaunt, Euch auf diese Art Wohlgefallen zu tun. Ich wusste nicht, dass Ihr so an meinem Werdegang interessiert wart.“ Nimue sagte, wie immer, wieder einmal genau das, was sie dachte, um das Gespräch in eine für sie geplante Richtung zu bugsieren. Vielleicht wäre hier eine andere Form der Suggestion angebracht. Schließlich habe ich es mit dem König zu tun. Doch Angriff war schon immer die beste Verteidigung. „Wahrlich Euer Scharfsinn ist beeindruckend, Mylady.“
Ein tückisches Blitzen flackerte in seinen Augen auf und zum ersten Mal wurde Nimue die Gerissenheit des Königs bewusst. Er gestaltete das Gesprächstempo, obwohl Nimue standhaft versuchte, ihn davon abzubringen und zu irritieren, damit er den Rhythmus wechselte. Doch er tat es nicht. Im Gegenteil. Der König schien Nimues Handlungen vorherzusehen und dementsprechend zu handeln. Als Nimue ihn das nächste Mal ansah, veränderte sich plötzlich das Bild des Königs vor ihren Augen, verschwamm und verwandelte sich in die graziöse Gestalt eines ausgewachsenen Pumas. Bedrohlich und faszinierend, lauernd und ausdauernd. Der perfekte Stratege. Der Silberlöwe fauchte und sprang auf sie zu, während er seine Krallen wetzte. Jeden Moment bereit, zuzuschlagen…
Nimue blinzelte und die Vision verschwand. Vor ihr saß der König und sah sie aufmerksam an. Nur das Glitzern seiner dunklen Augen erinnerte noch an einen drahtigen Puma. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Mylady?“, fragte er. Seine Stimme klang besorgt. Erst in diesem Moment fiel Nimue ein, dass er ihr etwas erzählt hatte. Völlig in ihrer Vision versunken, hatte sie es überhört. „Doch, es ist nichts, Eure Lordschaft. Ich… ich war nur etwas abwesend. Was meintet ihr eben?“ Ein unsicheres Lächeln umspielte die Lippen des Königs. „Ich sagte, dass Ihr in Beschäftigung mit den Mysterien der Göttin sicher übersehen habt, dass in zwei Wochen das Mittsommer-Fest praktiziert wird…“ Mit einem Schlag war Nimue vollends wach. „Wie meinen, Eure Hoheit? Litha?“ Das habe ich ja vollkommen vergessen! „So ist es.“ Nimue war verwirrt. Das war der Grund weshalb er mir ihr sprechen wollte? Dazu hätte er ebenso Mutter Morgaine informieren und sich mit ihr beraten können, was wollte er von ihr?
„Es tut mir Leid, mein König. Doch ich verstehe nicht recht worauf Ihr hinaus wollt. Was ist an Litha so besonderes, dass Ihr mit mir darüber sprechen wollt?“
Der König setzte seinen Läufer vor Nimues Königin und meinte, fast amüsiert: „Ihr wisst doch wohl, was zu Litha geschieht, Nimue?“ Die Priesterin fühlte sich immer mehr in die Enge getrieben. Was meinte er damit? „Nun…“ Im Geiste durchdachte Nimue die Rituale zu Litha, auf der Suche nach dem, was der König meinen könnte. Da fiel ihr etwas ein. Ohne darüber nachzudenken sagte sie: „Die Wahl des Sommerkönigs.“

Kapitel XXIII – Die fremde Religion
„Sehr gut, Nimue. Eure Klugheit übertrifft fast noch Eure Schönheit.“ Er lächelte siegessicher. „Nun, Euch wird vielleicht interessieren, dass ich weiß, wer dieses Jahr zum Sommerkönig gewählt wird.“ Nimues Augen weiteten sich vor Überraschung. Damit hatte sie nun wahrlich nicht gerechnet. Doch wie konnte er das wissen? Und warum offenbarte er es ihr? Sie musste dahinter kommen. Stolz hob Nimue den Kopf und fragte so neutral wie möglich: „Und… und wer wird es, mein König?“
„Galahad.“

Nimue war fassungslos. Es war, als habe man ihr all ihre Emotionen genommen und sie wäre nun völlig taub. Galahad? Galahad würde Sommerkönig werden? Wie konnte das sein? Der Großwesir des Königs, der verlorene Sohn der Herrin… ihr Geliebter. Ausgerechnet Galahad? Aber warum? Nimue glaubte, an dieser Erkenntnis fast ersticken zu müssen. Warum nur machte sie diese Neuigkeit so fertig? Sie müsste sich für ihn freuen, nun da er der Auserwählte des Dorfes, der Jäger des Waldes werden würde.
Doch sie konnte es nicht. Und sie wusste auch wieso: Er würde sie hintergehen. Er würde, er musste sie verraten, um seinen Teil des Rituals zu erfüllen. Sie kannte den Festverlauf. Nach dem Tanz der Priesterinnen und dem Segen der Göttin, würde die Wahl zum Sommerkönig folgen. Er würde sich eine Braut im Dorf suchen und sie offiziell als seine Gemahlin anerkennen. Dann würde er sie entführen und gemeinsam mit ihr die Nacht verbringen, um dem Dorf neues Leben zu spenden. Und was auch geschehen mochte, sie würde niemals die Gemahlin des Sommerkönigs werden. Erst vollends geweihte Priesterinnen durften an den Riten teilnehmen. Wie sollte sie nur diese Vorstellung ertragen? Nimue glaubte ihr Herz zerbreche in tausend Splitter.
„Nimue, was habt Ihr denn? Freut Ihr Euch nicht? Ich dachte, diese Nachricht würde Euch fröhlich stimmen.“ Die Stimme des Königs klang wie von weiter Ferne an ihr Ohr. Nur mühsam zwang sich Nimue in die Wirklichkeit zurück. „Freuen?“, fragte sie spitz. „Wie könnte ich mich freuen, Eure Hoheit? Ihr wisst, was Galahad mir bedeutet. Ihr kennt unsere Verbindung. Wir sind füreinander bestimmt. Und nun…“ Nimue schluchzte tief und hielt nur unter höchster Anstrengung die Fassade der würdevollen Priesterin aufrecht, die man sie einst lehrte. „Ja aber, Nimue. Wisst Ihr es denn noch nicht?“ Die Stimme des Königs klang verdutzt. „Ich dachte Mutter Morgaine habe es Euch bereits mitgeteilt.“
„Was? Wovon sprecht Ihr, Eure Lordschaft?“
„Oh Herrin.“, entfuhr es dem Schutzherrn vom Drachensee und er erhob sich flink, um zu Nimue zu eilen. Vor ihr machte er Halt und fiel auf die Knie. Nimue war davon so überrumpelt, dass sie nicht widersprechen konnte. Liebevoll ergriff König Lionel Nimues Hand und hauchte einen Kuss darauf. Als er den Blick hob, sprach aus seinen Augen pure Zuneigung. „Nimue, Ihr dürft dieses Jahr erstmalig an den Litha-Riten teilnehmen! Ich habe das bereits mit Morgaine geklärt.“

„Wie bitte?“ Nimue glaubte sich verhört zu haben. Das konnte nicht wahr sein! „Ich… ich darf teilnehmen?“, fragte sie völlig fassungslos. Sie konnte ihr Glück noch gar nicht fassen. „Ist das wirklich wahr?“ Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht auf und ohne darüber nachzudenken sprang sie auf, und umarmte den König herzlich. „Ich danke Euch, Eure Hoheit! Ich danke Euch von Herzen.“ Nun war es am König, verblüfft zu sein. Überrumpelt sah er auf den Lockenkopf Nimues hinab und fing schließlich an zu lächeln. Es war dasselbe Lächeln, das er Nimue bei ihrer Ankunft schenkte. Wissend und gütig.
„Aber meine Tochter, Ihr habt doch nicht geglaubt, dass ich es Euch wissen lasse, obwohl ihr noch an eure priesterlichen Pflichten gebunden seid…? Das wäre ja der Inbegriff der Grausamkeit.“
„Nun…“, murmelte Nimue in seine Brust und löste sich geschickt wie eine Katze aus seinen Armen. „Um ehrlich zu sein… anfangs dachte ich schon, dass… Nun ja… Ich konnte es ja selbst nicht glauben, aber irgendwie… tut mir leid.“ Sie lächelte schief und der König setzte einen empörten Gesichtsausdruck auf. „Und so etwas habt Ihr mir zugetraut, Mylady? Mir dem stets gerechten und gütigen Herrscher dieses Reiches? Denkt Ihr denn, ich sei ein Monster?“ „Wollt Ihr das wirklich wissen, Mylord?“, witzelte Nimue und setzte sich wieder auf den Eichenstuhl, während der König sich ihr gegenüber niederließ. Die Etikette war wiederhergestellt. Nichts ließ noch darauf schließen, dass eben ein paradoxer Ausnahmefall stattgefunden hatte, bei dem sowohl König als auch Priesterin ihre Fassade ablegten und ihre wahren Gefühle offenbarten. Wie grotesk.

„Eines würde mich doch noch interessieren, Eure Majestät.“, warf Nimue ernst ein und fixierte König Lionel mit festem Blick. „Woher wisst ihr, dass Galahad diesen Mittsommer zum Sommerkönig gewählt werden wird?“ Der König antwortete nicht sofort. „Ich habe es mir gründlich überlegt und bin zu dem Schluss gelangt, dass ich Euch vertrauen kann, Nimue. Wisst Ihr, es gibt da Etwas was Ihr wissen solltet.“ Genau so beginnen meistens die schlechten Offenbarungen. Was kommt jetzt? Sagt er mir, dass er nicht der ist, der er zu sein scheint? „Kennt Ihr Marion Zimmer Bradleys „Lythande“ und das, was sie ist?“ „Ist das eine Fangfrage, Mylord?“
„Nein. Ich meine es vollkommen ernst. Bitte antwortet auf meine Frage.“ Der Tonfall des Königs war so streng, dass es Nimue fast entrüstete. „Gut,“ antwortete sie artig. „Ja, ich kenne Lythande und ihre Identität, wenn Ihr es wissen wollt. Sie ist eine Eingeweihte Pilgerin des Blauen Sterns, eine Magierin, die ihre weibliche Herkunft vor den Anderen verbergen muss, um nicht ihre Macht zu verlieren, da sie einst heimlich an den Riten teilnahm und sich als Mann ausgab. Ihr Betrug wurde zu ihrem Schicksal… Doch ich verstehe nicht, was das mit Euch zu tun haben soll.“
„Eure Kentnisse spiegeln Eure magischen Künste.“, entgegnete der König, ohne auf Nimues Frage einzugehen. Meine magischen Künste? Worauf will er denn damit hinaus? „Wie ich sehe missversteht Ihr mich jedoch noch immer, Nimue. So werde ich es Euch zeigen. Bitte beugt Euch zu mir und seht mich an.“ Ohne Zögern kam Nimue dem sanften Befehl des Königs nach. Durchdringend sah sie ihm in die dunklen Augen. Und da -plötzlich- blitzte es auf. Erst war es nicht mehr als ein Schemen. Etwas blaues, sternförmiges, mitten zwischen den Augenbrauen des Königs. Nimue glaubte zu träumen. Was war das?

Sie versuchte, den Stern anzufixieren und endlich erkannte sie, um was es sich handelte. Das Etwas pulsierte und schimmerte eigenständig und prangte so unmissverständlich auf Lionels Stirn, dass es Nimue merkwürdig vorkam, es nicht schon vorher entdeckt zu haben. Ist es durch einen Zauber vor den Blicken Anderer geschützt? „Ja, Ihr habt Recht, Nimue. Sehr weise. Nicht alle vermögen ihn zu erkennen.“ Die Angesprochene zuckte erschrocken zusammen. Also kann er auch meine Gedanken lesen.

„Was ist das?“ „Der Stern von Nu.“ „Dann-“ Nimues Gehirn arbeitete auf Hochtouren. „-seid ihr Mitglied einer fremden Religion. Das erklärt vieles.“ Darum wusste er bereits vor meiner Ankunft, -dachte Nimue, und verbarg dabei ihre Gedanken- dass Galahad und ich zusammengehören und hat ihn mir statt Quentin als Führer zur Seite gestellt, er akzeptierte auch sofort die Inbesitznahme des Nixenplatzes in unserem Tempel, er kannte meinen neuen Namen, obwohl er bis jetzt geheimgehalten wurde und er weiß nun um Galahads Zukunft als Sommerkönig. Das kann nur eines bedeuten: Er hat Das Gesicht – und er dient wahrscheinlich als Prophet der Herrin. „Welchem Aspekt der Göttin dient Ihr?“ „Der Großen Lebensspenderin, Älteste der Alten und Erlöserin Ägyptens: Isis.“
„Isis.“, wiederholte Nimue flüsternd. Sie spürte ein Prickeln in Oberarmen und Rücken, was bedeutete, dass sich Das Gesicht ankündigte. „Ich bin die Natur, die universelle Mutter, Herrin der Elemente, erstes Kind der Zeit, Herrscherin im Reich des Geistes, Königin der Toten, auch Königin der Unsterblichen, die einzige Manifestation aller Götter und Göttinnen… Ruft mich mit meinem wahren Namen an: Königin Isis. — Lucius Apuleius‘ „Metamorphosen“.“ Nimues klare, monotone Stimme verklang und einen Moment war es totenstill im Thronsaal. Schließlich ließ sich ein Klatschen vernehmen. Nimue blinzelte und erkannte den König, der Beifall applaudierte. Scheppernd erschallte das Echo im Sall. „Kompliment, meine Liebe. Ich gebe zu, ich bin beeindruckt. Ich wusste nicht, dass Ihr die Offenbarung meiner Herrin beherrscht.“ Nimue schloss die Augen, um den noch anhaltenden Schwindel zu vertreiben und meinte: „Um ehrlich zu sein – ich auch nicht.“
Der König betrachtete sie abschätzend, schließlich seufzte er und nahm ihre schmale Hand. „Es tut mir leid, Nimue. Ich vergaß, dass Ihr noch eine junge Frau seid. Wahrlich habe ich Euch mit meinem Geheimnis erschöpft. Eure Klugheit und Stärke narrte mich zu glauben, ich habe es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun. Ich schlage vor, dass Ihr Euch nun zurück zur Priesternschaft begebt. Sicher seid Ihr müde. Wenn es Euch angenehm ist, so könnt Ihr mich gerne für eine Partie Schach besuchen kommen und wir setzen unser Gespräch fort. Und so die Göttin will, sehen wir uns zu Mittsommer wieder. Passt auf Euch auf, Nimue und lebt wohl.“
„Ihr auch, Eure Hoheit.“, parierte sie instinktiv, ohne jedoch den näheren Sinn zu erkennen. Von Isis‘ Offenbarung benommen, nahm Nimue die Abschiedsworte des Königs wahr, dann spürte sie nur noch, wie Pendra ihren Arm um ihren Hals schlang und sie aus dem Thronsaal führte.