Liebe auf den zweiten Blick

„Mallorca, wir kommen!“, jubelte Biggi und knallte die Schreibtischschublade zu. „Stress und Büro drei Wochen lang ade!“ „Scheibenkleister!“ Lili seufzte unglücklich. Sie hatte zusammen mit Biggi Mallorca gebucht, aber im Gegensatz zu ihrer Freundin machte sie keinen begeisterten Eindruck. “ Hey! Was ist denn los?“ Biggi starrte sie überrascht an. Lilis Blick wanderte zum Telefon und blieb daran hängen. Biggi verstand sofort. „Ach herrje!“ Sie verdrehte die Augen. „Steven, stimmt’s? Du bekommst jetzt schon eine Krise‚ weil du drei Wochen lang nicht seine Stimme hören wirst.“ Lili nickte schwach. Biggi schüttelte den Kopf. „Mensch, wie kann man bloß in einen Typ verliebt sein, von dem man nur die Stimme kennt?“ „Ja, aber er hat doch eine so tolle Stimme.“ Lili schloß die Augen. Als würde sie seine Stimme noch einmal hören. Ihr lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Mit der Zeit hatte Lili sich ein Bild von ihm gemacht: Groß, schlank mit einem sportlichen Body. Und ein Gesicht, das dem von Eloy, einen Jungen von Caught in the Act, ähnelte. Ja, so stellte sie sich Steven vor. Er arbeitet bei der Firma, von der das Unternehmen, in dem Lili ihre Ausbildung zur Bürokauffrau absolvierte, das Büromaterial bezog. Und Lilis Aufgabe war es, das zu organisieren. Eine Aufgabe, die sie nur zu gerne tat. Denn jeder Anruf bedeutete ein Date mit ihm. „Du und dein Steven.“ Biggi überlegte. „Wenn ich du wäre, hätte ich mich schon längst mit ihm verabredet.“ Natürlich hatte Lili diese Idee auch schon, aber sie hatte Angst sie würde ihm nicht gefallen. Sicher, sie war kein häßliches Entlein – aber auch keine Pamela Anderson. Was, wenn Steven sie nicht mochte? Dann wäre Schluss gewesen mit ihren schönen Telefon-Dates. „Wenn du es gar nicht ohne ihn aushältst, kannst du ihn ja von Mallorca aus anrufen.“ Tatsächlich hatte Lili auch schon daran gedacht.

Dann kam die Reiseleiterin -sie hieß Tina- und sah auf den ersten Blick sympathisch aus. „Rein mit euch!“, rief sie. Als alle Plätze besetzt waren, nahm sie eine Liste und rief jeden
Einzelnen auf. Lili hörte kaum hin, in Gedanken telefonierte sie mit Steven. „Steven Trojanus!“, rief jemand in ihren Tagtraum hinein. Genau. Steven Trojanus. So hieß er. Ein außergewöhnlicher Name für einen außergewöhnlichen Jungen. „Hier!“, antwortete eine Stimme die es nur einmal im Universum gab. Lili seufzte und verstand überhaupt nichts mehr. Biggi gab ihr einen Stoß in die Seite. „Mensch‚ Lili! Er ist hier!“ Lili starrte ihre Freundin an als hätte sie sich plötzlich in Schweinchen Babe verwandelt. „Wie? Was?“ „Dein Steven. Er ist hier. In diesem Bus.“ Biggi sprach nun leiser. „Er sitzt genau hinter dir.“ Nun erst verstand Lili – und erstarrte. Ihr Herz machte Purzelbäume. Sie erschrak. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und drehte sich um. Da saß ein absoluter Durchschnittstyp. Unscheinbar und ein bisschen blass. Sein Gesicht war nicht hässlich, aber hatte nichts mit dem von Eloy zu tun. Die Nase war zu lang und die Ohren eine Idee zu groß. Das ist also Steven. Mein Steven!, dachte sie. Sie war ein bisschen geschockt, als der Junge den Kopf schüttelte und sagte: „Ich bin Andreas. Das ist Steven!“ Er deutete mit dem Daumen nach links. Lili verfolgte mit den Augen den Daumen. Und erstarrte ein zweites Mal.
Der Junge, den sie wahrnahm, sah megatoll aus. Zwar nicht wie Eloy von CITA  aber wie B-Rock von den Backstreet Boys. Und der gehörte für Lili auch zu den Traumboys. „Du … du bist Steven?“, stotterte Lili. Er nickte. „Immer schon gewesen. Und wer bist du?“ „Ich bin Lili … Lili Wagner.“, stellte sie sich vor und nun wartete sie auf seine Reaktion. Er sah sie einige Sekunden an. Solange er sie ansah, hielt Lili den Atem an. Was würde er sagen? Aber er nickte zufrieden. „Ist ja megastark.“ Ein Lächeln kam über seine Mundwinkel.

„Na so ein Zufall!“, meinte Biggi circa 2 Stunden später, als die Reisegruppe auf dem Stuttgarter Flughafen in ihr Flugzeug einstieg und sie Lili endlich mal wieder für sich hatte. Denn für den Rest der Busfahrt hatte Lili den Platz mit Andreas getauscht. „Eigentlich kein richtiger Zufall.“, erwiderte Lili lächelnd. „Ein bisschen nachgeholfen hat Steven schon. Ich hatte ihm irgendwann einmal erzählt, dass ich Urlaub auf Mallorca machen würde. Das hat ihn anscheinend inspiriert.“ „Na, da bin ich aber gespannt wozu du ihn noch inspirierst!“ Biggis Lachen wirkte nicht besonders fröhlich. Sie ahnte, dass der Urlaub ganz anders verlaufen würde als sie sich das vorgestellt hatte. Und sie sollte Recht behalten. In Alcudia, wo die Gruppe in einen Drei-Sterne-Hotel untergebracht wurde, teilten sich Biggi und Lili ein Zimmer, das sie allerdings nur zum Schlafen benutzten. Ansonsten waren sie von morgens bis abends unterwegs. Die meiste Zeit verbrachten sie am Strand. Beachvolleyball war der Mega-Hit. Allerdings nicht für Lili, für sie war Steven das Einzige. Die beiden hingen ständig zusammen und alberten herum. „Da haben sich zwei gesucht und gefunden.“, sagte Biggi irgendwann zu Andreas. Der nickte unglücklich. Biggi fand heraus,  dass Andreas heimlich in Lili verliebt war. Jedenfalls glänzten seine Augen immer sehnsüchtig, wenn er Lili sah. Das war allerdings nicht oft, weil Lili ja mit Steven zusammen war und höchstens zum Frühstück oder zum Abendbrot ins Hotel kam. Nur am Strand begegnete man sich regelmäßig. Aber dann hatte Lili nur Augen für Steven. Für Andreas interessierte sich Lili genauso wenig wie für Biggi. „Du magst Lili, stimmt’s?“, flüsterte Biggi Andreas zu.
Es war Nacht. Beachparty. Die Stimmung war super. Allerdings nicht bei Biggi und Andreas. Und beide hatten denselben Grund für ihre ziemlich miese Laune. Und dieser Grund hieß Lili! Andreas versuchte erst gar nicht, seine Gefühle zu leugnen. Sein trauriger Blick folgte Lili und Steven, die sich in dem Moment Arm in Arm von der Masse absetzten und in der Nacht verschwanden. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen was sie vorhatten. „Als sie sich im Bus zu mir umgedreht hat, war’s um mich geschehen.“, sagte Andreas. „So etwas nennt man wohl Liebe auf den ersten Blick. Aber gegen Steven komme ich nicht an. Ich habe leider keinen Superbody, auf den die Mädchen abfahren.“ Er schaute traurig in den Nachthimmel. „Dafür hast du sicher andere Qualitäten.“, versuchte Biggi ihn zu trösten. Er tat ihr richtig leid. „Aber keine sichtbaren.“ Er seufzte. „Das ist nun mal Pech!“

Wenig später kam Lili auf Biggi zu. „Ach, Biggi!“, seufzte sie. „Ich bin ja sooo happy. Steven ist so wie ich ihn mir immer vorgestellt habe. Ich glaube, ich liebe ihn.“ Biggi zuckte mit den Schultern. „Und er? Liebt er dich auch?“ Traurig schaute sie die Freundin an. „Logo! Er sagt so wie mich hat er noch keine Andere geliebt. Und er würde alles für mich tun!“ Biggi lächelte ihre Freundin geheimnisvoll an. „Genau dasselbe würde dir Andreas schwören.“ „Andreas?!“ Lili sah ihre Freundin verständnislos an. Biggi nickte ernst. „Ja, er ist total in dich verliebt. Lili lachte. „Andreas ist ein lieber Kerl. Aber er passt nicht zu mir.“
Noch zwei Tage schwebte Lili auf Wolke 7. Dann verknackste sie sich ihren Fuß beim Volleyballspiel. Sie schrie, fiel hin und kam nicht mehr auf die Beine. Sie rieb sich den rechten Fußknöchel. Ihr Knöchel schwoll innerhalb von Sekunden an. Alle Spieler waren sofort bei ihr. Natürlich auch Andreas, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Ein Spieler sagte: „Oh oh! Das sieht gar nicht gut aus.“ Eine Viertelstunde später war Lili unterwegs zum Arzt. Der Arzt gab ihr einen Verband. „Du hast eine schlimme Bänderdehnung.“ „Na toll!“, meinte Steven. „Damit ist der Urlaub gelaufen.“ Sie seufzte. Wenig später wurde Lili von einigen Jungen und Mädchen aus ihrer Reisegruppe begrüßt. In der ersten Reihe stand Andreas. Natürlich war Biggi auch zur Stelle. „Mach dir nur keine Sorgen! Wir werden dich schon verwöhnen.“ „Danke, Biggi.“, sagte sie. „Aber das erledigt Steven für mich.“ Sie bemerkte nicht, wie er die Augen verdrehte.

Den Rest des Nachmittages verbrachte Lili in einem Liegestuhl am Swimmingpool. Eine eiskalte Cola stand immer griffbereit. Neben ihr lag Steven. Er wälzte sich unruhig auf der Liege herum. Wesentlich ruhiger verhielt sich Andreas. Der wie immer unauffällig in Lilis Nähe war und sie nicht aus den Augen ließ. „Ich werde noch wahnsinnig!“, beschwerte sich Steven nach einiger Zeit. „Warum?“, wunderte sich Lili. „Ich brauche Action. Wie ’ne Ölsardine hier rumliegen, das geht mir total auf den Keks!“ Er schrie fast. „Wenn ich mir vorstelle, dass das den Rest des Urlaubs so weitergehen soll krieg‘ ich die Krise!“ Lili schluckte. „Aber … ich kann doch nichts dafür!“ „Ach nee? Wer denn sonst?“ Steven funkelte sie böse an. „Ich vielleicht? Du hättest eben besser aufpassen sollen. “ Lili schluckte noch einmal. Er meint es nicht so., dachte sie und wünschte sich nichts sehnlicher als dass er sie nun in den Arm nahm und küsste. Doch er tat es nicht. Stattdessen stand er auf und sagte: „Ich brauche ein bisschen Bewegung. Ich gehe runter zum Strand.“ Dann ging er.
Lili war enttäuscht. Er ist eben frustriert. Deprimiert griff sie nach ihrem Glas. Doch es war leer. Plötzlich tauchte eine Hand auf. Diese Hand hielt ein Glas Cola. „Nachschub.“ Lili blinzelte ins Sonnenlicht und erkannte Andreas‚ der sie verlegen anlächelte. Du?, dachte sie während sie nach dem Glas griff. Er nickte. „Einer muss sich ja um dich kümmern‚ solange dein Freund weg ist. Darf ich?“ Dann legte er sich auf den Liegestuhl neben Lili. „Ich tu’ alles für dich!“ Genau dasselbe hatte Steven ihr gestern noch versprochen. Und jetzt… Jetzt war Andreas da. Er sah ihr tief in die Augen. Lili glaubte in ihnen zu ertrinken. Und irgendwann trafen sich ihre Lippen. „Ich liebe dich!“, sagte Andreas. „Vielleicht könnte ich dich auch lieben.“, sagte Lili.