Der Tod ist weiblich

Ich sitze auf dem kalten Stein eines Anlegers oder Kais, die Beine baumeln über dem Wasser, so knapp dass eine Welle die Sohle meines linken Schuhs berührt. Ich habe die Hände an den Seiten aufgestützt, eng am Körper. Der Stoff meines Sommerkleides kitzelt leicht, als der frische Wind dadurch fegt. Es ist Nacht. Vollmond. Ich kann die riesige Scheibe als Reflexion vor mir sehen. Es wirkt sehr friedlich. Ich lausche dem Klatschen des Wassers und schließe die Augen.

„Hallo.“

Die Stimme klingt nah, als wäre sie direkt an meinem Ohr. Aber ich erschrecke mich nicht. Weil die Stimme irgendwie vertraut klingt. Kenne ich sie? Ich öffne die Augen und sehe das Mädchen neben mir sitzen. Sie ist einfach da. Ich sollte mich wundern, wo sie herkommt, aber das tue ich nicht. Mir wird bewusst, dass ich selbst nicht weiß wie ich hierhergekommen bin. Ist es ein Traum?

„Hallo.“

Das Mädchen lächelt. Nein, das stimmt nicht. Sie bewegt kaum den Mund, man sieht keine Zähne. Aber ihre Augen leuchten. Sie lächelt von innen. „Wer bist du?“ Mein Mund wird rau, als ich die Frage stelle. Ich schäme mich, so als müsste ich dieses Mädchen kennen. Tue ich das?

Das Mädchen antwortet nicht sofort. Sie sieht mich nur an, mit ihren hypnotischen Augen, deren Iris wie eine Palette aus Violett ist. Violett? Nun, das ist seltsam. Wer hat schon violette Augen? Überhaupt wirkt das Mädchen ANDERS. Neben den Augen sind auch ihre schulterlangen, seidig glänzenden Haare gefärbt. Blau, Lila und andere Schattierungen. Wie ein Punk. Über dem rechten Ohr hängt eine Libellen-Haarspange die im fahlen Licht schimmert. Für einen Augenblick ist mir, als hätte sich die Libelle bewegt.

Das Gesicht des Mädchens ist bemalt wie ein Totenschädel, mit großen schwarzen Kreisen um die Augen, einem Pik-ähnlichen Symbol auf der Nase und dunklen Lippen, die mit einer Art Spinnennetz bis zur Wange verlängert sind. Wie ein Kostüm zum Día de Muertos.

„Du hast mich gerufen.“ Das beantwortet nicht meine Frage, aber es fühlt sich stimmig an. Ich nicke langsam und eine Weile sitzen wir beide schweigend am Wasser. Eigentlich, merke ich, ist mir egal wer dieses Mädchen ist. Auf einer tiefen Ebene kenne ich sie. Das reicht mir. Ich weiß, dass mir hier keine Gefahr droht. „Du kannst mich Agatha nennen.“

Ihre Stimme ist süß und schwer wie der Duft einer Orchidee. „Hallo Agatha.“ Agatha lächelt, diesmal wirklich mit dem Mund und ich sehe, dass sie keine Zähne hat. Da ist nur Finsternis in ihrer Kehle, wie ein schwarzes Loch das alles aufsaugt was sich ihm in den Weg stellt. Jetzt wird mir doch etwas unbehaglich zumute.

„Hab keine Angst. Ich bin hier um dir zu helfen.“, beruhigt mich Agatha als habe sie meine Gedanken gelesen. Hat sie? Ich schlucke. Sie neigt den Kopf und die Libellenspange fängt an sich zu bewegen. Jetzt sehe ich, dass es eine echte lebende Libelle ist, die in ihrem Haar sitzt. Ihre Flügel glänzen wie ein Edelstein. Wunderschön. „Ist das eine Libelle?“, frage ich um abzulenken, obwohl es offensichtlich ist.

Agatha nimmt die Libelle auf den Finger und betrachtet sie wie ein Kunstwerk. Das scheint der Libelle zu gefallen, sie reckt ihre Flügel als würde sie posieren. „Ich mag Libellen. Sie sind meine Boten zwischen den Welten.“ Zwischen den Welten… bei diesen Worten hallt etwas in mir nach. Etwas Altes. „Und sie helfen, Ballast abzuwerfen.“ Jetzt schaut mich Agatha direkt an.

Ich habe das Gefühl, dass sie etwas von mir will, begreife aber nicht was. „Es geht nicht um das, was ich will, sondern um das, was du willst. Hier.“ Sie lässt die Libelle los und legt ihre Hand auf meine Brust, mitten aufs Herz. Ihre Haut ist eiskalt und ätzt wie Säure. Ich atme vor Überraschung tief aus. Es tut nicht weh, es ist nur… als würde etwas fehlen. Wie ein Loch in meiner Seele. Ist sie hier um es zu füllen?

„Ich… verstehe nicht.“ Das stimmt nicht, denn etwas in meinem Inneren versteht sehr wohl. Mir kommen die Tränen. Ich starre aufs Wasser, fühle den kalten Nachtwind und versuche die rasenden Gedanken in meinem Kopf unter Kontrolle zu bringen. Ganz im Hier zu sein. Wo auch immer dieses Hier ist. Agathas Hand ruht noch immer auf mir, der Ärmel ihres schwarzen Spitzengewandes fühlt sich schwer an. Und je schwerer ich mich fühle, je mehr ich mich hingebe, desto klarer wird mir was Agatha tut.

„Du bist der Tod, richtig?“ Plötzlich lässt Agatha mich los und ich muss mit den Armen rudern, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Ohne den Kontakt fühle ich mich nebliger. Einsamer. Instinktiv greife ich nach ihrer Hand und halte sie fest. Ich könnte schwören, dass ich sie seufzen höre. Als wolle sie mich tadeln, aber sie tut es nicht. Da ist nur Liebe. Die Libelle, die ihre Kreise übers Wasser gezogen hat, kehrt zurück und landet auf meiner Hand. Da sitzt sie nun und erdet mich.

„Okay, machen wir es auf deine Art.“ Agatha lehnt sich zurück und lächelt, innerlich wie am Anfang ohne den gruseligen Sog der Schwärze, den ich danach gesehen habe. „Ich bin was ich bin. Ich bin das Ende und der Anfang. Ich bin der Übergang. Die Transformation. Du nennst es Tod. Viele Menschen fürchten mich, weil sie mich nicht verstehen. Das ist natürlich. Darum siehst du mich auf diese Art. Als Freundin. Denn das bin ich. Ich bin deine Freundin.“

Das stimmt. Ich kann es fühlen. Agatha ist hier um mir zu helfen. Ich entspanne mich. „Heißt das, dass ich sterbe? Jetzt, meine ich. Bin ich deshalb an diesem Ort? Damit es… leichter für mich ist zu gehen?“ Agatha kneift die Augen zusammen. Habe ich sie mit meiner Frage verärgert? Nein. Sie schmunzelt. Macht sie sich etwa über mich lustig? Ich bin verwirrt.

„Das bist du in der Tat.“ Agatha tätschelt mir die Hand, vorsichtig, um die Libelle nicht zu vertreiben. Irgendwas sagt mir, dass diese Libelle wichtig ist. „Sei keine Dramaqueen. Alles stirbt zu seiner Zeit. Aber nicht heute. Erinnerst du dich an ihn hier, hm?“ Sie deutete auf die Libelle zwischen uns. „Ich sagte er helfe Ballast abzuwerfen. Darum bist du hier. Du brauchst meine Unterstützung, damit ETWAS IN DIR sterben darf. Das ist alles.“

Ein Teil von mir ist erleichtert nicht wortwörtlich zu sterben. Aber ich verstehe noch nicht ganz. „Das ist das Problem.“, spricht Agatha meine Gedanken laut aus. Ich habe mich schnell daran gewöhnt, dass sie das kann. Es ist einfach so. „Du hängst in deinem Verstand fest. Hier.“ Sie tippte an meine Stirn. Wieder bildet sich dort, wo ihre Haut die meine berührt ein ätzender, kalter Film. „Und nicht hier.“ Agathas Fingerspitze deutete auf mein Herz, dort wo sie mich vorhin berührt hat. „Dabei ist das Herz der Schlüssel zur Seele. Du weißt das. Sonst wäre ich nicht hier.“

Die Libelle auf meiner Hand fängt aufgeregt an zu flattern. „Du hast Recht, ich fühle dass dort ein tiefer Schmerz liegt, der losgelassen werden möchte. Aber ich weiß nicht wie. Ich weiß es einfach nicht.“ Langsam spüre ich die Verzweiflung aufkeimen und das ist kein schönes Gefühl, besonders nicht an diesem Ort. Als gehöre er nicht hierher.

„Vertraue mir. Ich helfe dir, dich zu erinnern. Alles, was du wissen musst, ruht längst in dir. Manchmal braucht es nur einen kleinen Stupser von Santa Muerte.“