Todeshändler

Wie konnte sie nur je in diese prekäre Situation geraten? Sie, die Unberührbare, die nicht zu fassende. Arjuna. Vorsitzende. Eine Todeshändlerin der Nebelkrähen. Eine Tochter des Rabenmondes. Die beste Kopfgeldjägerin ganz Europas. Codename: Himmelsdrache.

Unschlüssig starrte Arjuna auf den Dolch vor ihren Füßen. Sie war allein in der Zelle des Kali-Clans. Nur sie, ihr pechschwarzer Kimono. Ihr Stolz. Ihre Würde. Ihr Mut. Ihr unerschütterliche Wille. Ihr Trotz. Ihre Kaltblütigkeit. Und dieser Dolch, mit dem sie ihrem Leben ein Ende setzen sollte, sofern sie nicht Mitglied der Sturmkrähen wurde.

Arjuna seufzte und nahm das Instrument ihres Todes in die Hand.
Der japanische Tonto-Dolch war wirklich von erstklassiger Qualität. Ein Unikat von Yoshindo Yoshihara. Die Klinge scharf wie Rasierklingen, der Griff rot wie Blut.
Sie strich mit ihren langen Fingern federleicht über das kalte Metall, hauchte darüber. Liebkoste ihn wie ein Kind. Ja, dies war nicht die erste Samurai-Waffe mit der sie arbeitete. Allmählich waren sie ihr ebenso vertraut wie Pistolen und Gewehr.

Nein, sie zweifelte nicht eine Sekunde am Ausgang dieses Krieges.
Lieber starb sie und ging in das Reich der Großen Rabenmutter ein, als dass sie ihre Fähigkeiten dem Feind überließ. Es war eine Frage der Ehre.

Arjuna schloss die Augen, während sie den Griff des Dolchs mit beiden Händen umspannte. Und ihn an die Stelle über ihrem Bauchnabel führte – wie es seit Traditionen Brauch war.
Gerade als das Metall schon ihren Kimono durchschlitzt und die Haut berührt hatte, öffnete sich laut quietschend die Tür und Khane trat ein. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, diesen Geruch von Moschus, Schweiß, Blut und Egoismus gab es nur einmal.

Die Todeshändlerin hatte nur ein müdes Lächeln für ihn übrig. Für sie war er nicht mehr als ein nutzloses Insekt, das es zu zerquetschen galt.
Doch er hatte ihre Konzentration gestört. Und das nahm sie ihm übel.
„Was willst du, Erddrache?“
Die Sturmkrähe lächelte kalt. Abschätzend. So als bereite es ihm Spaß, sie derart demütigen zu können.
„Dich davon abhalten, einen Fehler zu begehen.“

Arjuna öffnete die Augen.
„Ach, was du nicht sagst. Dann frage ich mich, warum ihr mir diese Waffe gebt – obschon ihr Angst habt, ich könnte sie gebrauchen.“ Ihre grünen Augen blitzten belustigt.

Khane ging nicht auf diese Provokation ein. Er kannte Arjunas Art der geistigen Manipulation. Hatte sie jahrelang studiert. Nein, er würde nicht darauf hereinfallen und ihr somit den Triumph über die Organisation geben, auf die sie so hoffte.
„Komm.“, sagte er stattdessen fast gleichgültig. Und warf ihr ein paar Schuhe hin. „Wir gehen ein wenig spazieren.“

KAPITEL I – Morgenröte
Arjuna blickte ihn seine erkalteten Augen. Sah den unerbitterten Nachdruck in ihnen. Also beugte sie sich. Vorerst.
Sie nahm die Stiefel und streifte sie über. Nein, es wunderte sie nicht, dass sie exakt passten. Bei den Kali-Brüdern stand Spionage ganz oben auf der Anforderungsliste.

Die Todeshändlerin stand auf und reckte stolz den Kopf. Sie mochte angeknackst sein – doch sie war nicht gebrochen. Jeder wusste, dass SIE die eigentliche Siegerin dieses Machtspiels war.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie und versuchte es beiläufig klingen zu lassen. Es gelang.

Khane schnippste und im Rahmen der Kerkertür erschien ein weiß gemantelter Typ Mitte 30. Arjuna kannte ihn. Es war Professor Doktor Tynarin, Nobelpreisträger von 2006, Genie der Biotechnik und nun Leiter der medizinischen Abteilung der Sturmkrähen.
„Los.“, orderte Erddrache und Tynarin wies sie mit der Aaalglätte eines Anwalts darauf hin, dass sie zu Sicherheitszwecken einen Peilsender in die Schulter injiziert bekommen würde.

„Wir gehen in die Stadt.“, beantwortete Khane endlich Arjunas Frage – im selben Moment jagte der Doktor ihr den Chip unter die Haut.
Himmelsdrache biss sich auf die Lippen, als der Schmerz durch ihren Körper schoss. Doch sie würde weder jammern, noch weinen. Sie war tough. Schließlich war das ihr Job.

„Wie schön.“, murmelte sie daher nur zwischen den Zähnen hervor und würdigte Tynarin eines vielsagenden Blickes. Wahrscheinlich sah ein Orca so das Robbenbaby an, dass er genüsslich zu verspeisen vorhatte.
„Ich dachte mir, die Herrin bräuchte etwas Ablenkung.“ Khane versuchte doch tatsächlich galant zu wirken. Es misslang total.

Arjuna zog die Mundwinkel ein wenig nach oben, ehe sie dem Feind aus den Irrgängen des Gebäudes folgte.
Der Sitz der Kali-Brüder befand sich an einem geheimen Ort. Selbst Interpol besaß keine Kenntnis davon. Doch die Nebelkrähen hatten es anhand seiner Funktion, Größe und Arbeiterzahl als Hochhaus inmitten einer Großstadt identifiziert. Vielleicht eine Anwaltskanzlei oder ein Hotel.

Dieser Verdacht schien sich zu bestätigen, als Himmelsdrache mit ihrem Führer am Ende der Steintreppe auf einen Fliesengang traf, zu dessen beiden Seiten sich mit Glas abgegrenzte Büroräume befanden. Das ganze erinnerte sie etwas an das Hauptquartier von SD-6 in „Alias – Die Agentin“.

Während die beiden den nicht enden wollenden Gang durchquerten sah sich Arjuna mit der Beobachtungsgabe einer Meisterkillerin um.
In jedem der Büros arbeitete ein Mitglied der Kalis. Selbst ihre Anzüge konnten die weiße Hand-Tätowierung über den Fingerknochen nicht verbergen. Misstrauen in den Gesichtern. Alle gingen ihren Tätigkeiten mit großer Sorgfalt und Professionalität nach. Das Arbeitsklima glich einem Ameisenhaufen – jeder wusste was er wann wo zu tun hatte.
Die Räume waren alle weiß gestrichen und mit einer Decken-Kamera überwacht. Ein Computer zierte jeden Schreibtisch. Wahrscheinlich an einen Satelliten angeschlossen, der Datenbanken hacken und Informationen schneller beschaffen konnte als das Internet.
Es gab keine Pflanzen oder sonstigen Krimskrams. Alles wirkte geordnet und kalt.

Die Türen waren schallgedämpft, doch sie verstand sich auf die Kunst des Lippenlesens und das ‚Telefongespräch‘ einer drallen Engländerin erregte ihre Aufmerksamkeit. Warum wusste sie selbst nicht genau, doch ihn ihrem Job hatte ihr Instinkt sie nie getäuscht.
Tatsächlich schien die Dame ziemlich geschäftig. Auf eine aufgeregte, nervöse Art.
Ihre Hand, mit der sie den Hörer hielt, zitterte leicht.
Es war Büro Nummer 7. Geschäftsleitung.
„Ja, Sir…. ich habe verstanden… Phase „Morgenröte“ tritt in Kraft…“

Phase: Morgenröte?
Himmelsdrache runzelte die Stirn, ließ sich jedoch nichts anmerken. Sie hatte die neuen Informationen gespeichert.
Blain würde wissen, um was es sich bei dem Code handelte. Vielleicht ein neues Opfer, eine Mission zur Beschaffung von Massenvernichtungswaffen, ein Ablenkungs-Attentat… die Möglichkeiten waren zahllos und diese Organisation unberechenbar.
Doch was unterschied sie von all den anderen Aktionen? Die Reaktion der Frau sprach Bände.

Endlich hatten sie das Ende des Ganges erreicht und standen vor dem Lift.
Khane öffnete die Tür mithilfe eines Finger-Scans und sie fuhren -nach 2. Identifizierungsabfrage mittels Stimme- in den 4. von insgesamt 50 Stockwerken.

Als sich die Tür öffnete, staunte Arjuna nicht schlecht. Sie standen mitten in einer Hotellobby!
Anhand der Ausstattung musste es das Four Seasons in Berlin sein.
Nein.
Sie klapperte die in ihrem Kopf verwahrten Gebäudepläne durch. Das konnte nicht sein. So viele Etagen besaß das Hotel nicht.
Doch wo waren sie dann?

„Da lang.“, instruierte Khane sie nach rechts und unterbrach so jäh ihre Gedanken.
Er hakte sich bei ihr ein, was harmlos aussehen mochte, in Wirklichkeit jedoch nichts weiter als eine Methode zum radikalen Lotsen war.

Vor dem ‚Hotel‘ parkte eine Limosine. Pechschwarz.
Erddrache zwang sie auf den Rücksitz. Er selbst nahm neben ihr Platz.
Sie waren allein.
Wie töricht. Selbst mit dem Finder in sich wäre es ein leichtes für sie von hier zu fliehen. Die Sturmkrähe war -so stark er sein mochte, sie wollte ihn hier nicht unterschätzen- keine Herausforderung. Das Auto nicht gesichert.

Eine Weile hing sie diesen Fluchtplänen nach, dann bemerkte sie seinen Blick auf sich ruhen.
„Ich weiß was du denkst.“ Diese Feststellung klang selbstüberzeugt.
„Das bezweifle ich.“, erwiderte sie kühl. „Du kennst mich nicht, Khane.“
Eine Weile schwieg er.
„Der Kimono steht dir wirklich gut.“ Er lächelte als wäre er stolz darauf, ihr eine Freude gemacht zu haben.
„Was ist Phase: Morgenröte?“
Pause.
Tiefes Seufzen.
„Ach, Arjuna…“ Diese Frau war einfach unmöglich.
„Sag es mir.“ Anscheinend fand sie es auch noch angebracht, so ungefragt den Gesprächsrhythmus anzugeben. Und das bei einer Top-Secret-Mission.
„Du weisst genau, dass ich es dir nicht sagen kann. Würdest du es an meiner Stelle tun?“
„Nein.“ Sie hatte geantwortet, ohne nachzudenken.
„Na also.“
Wieder Pause.
„Du solltest dir diese dreiste Selbstverständlichkeit abgewöhnen, Arjuna.“
„Warum? Hat doch bis jetzt prima geklappt.“ Sie lachte.
Er seufzte nur.

Die Limosine hielt vor einer kleinen Parkanlage. Anhand der langen Fahrzeit mussten sie bereits in Brandenburg sein.
Arjuna stieg aus – und war überrascht, dass es bereits dämmerte. Wie lange sie wohl im Exil verbracht hatte?

„Komm. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Ungefragt nahm er ihre Hand. Sie wehrte sich nicht.
Während sie durch die Allee aus Eichen und Birken liefen, folgte ihnen der Limosinenfahrer unauffällig. Doch nicht unauffällig genug für Arjunas Sinne. Im Seitenwinkel sah sie, dass er eine FN-Seven trug. Die Nebelkrähe musste darüber lächeln. Also: Sicher ist sicher, hm?
Als ob das allein reichen würde…

„Hier.“
Arjuna sah auf.
Vor ihnen befand sich ein Springbrunnen mit Neptun. Im Halbdunkel bunt erleuchtet. Ein wenig wie am Ende von „Clueless“, als Cher erkennt, dass sie in ihren Stiefbruder Josh verliebt ist. Hm.

Es war wunderschön. Diese Atmosphäre. Doch Arjuna kam angesichts dieser bevorzugten Behandlung nicht umhin, sich zu fragen: „Warum hast du mich hierher gebracht, Khane?“
Der Angesprochene starrte auf das plätschernde Wasser.
Pause.
„Weil es mir befohlen wurde. Ganz einfach.“ Doch so einfach war es nicht.
Arjuna sah ihn durchdringend an. Er starrte neutral zurück.

„Das ist nicht alles.“, stellte sie simpel fest. Den Blick wieder auf den Brunnen geheftet.
„Du hast Recht.“
Nun war es an ihr zu seufzen.

„Khane.“ Sie MUSSTE einfach wissen, warum sie nicht getötet und das Hauptquartier ihrer Organisation gestürmt worden war. Was genau Phase: Morgenröte war. Was sie hier tat.

Der Mann Mitte 20 hob den Blick.
Es lagen soviele Gefühle darin, dass selbst Arjuna nicht imstande war, sie alle zu benennen. Doch ‚Verletzlichkeit‘ überwog. Und genau das, machte sie misstrauisch.
„Ich weiß alles über dich, Arjuna… doch: Hast du dich je gefragt, warum ich das mache?“

DAS war nun wirklich das letzte, was sie erwartet hatte. Sie schätzte Überraschungen.
Die Todeshändlerin zog argwöhnisch eine Augenbraue hoch.
„Ja, das habe ich.“

Sie hörte, wie der Bodyguard hinter ihr seine Waffe zog. Langsam, so als hätte er sich noch nicht entschlossen, wie bedrohlich die Situation war.
„Willst du es mit Bestimmtheit wissen?“
Khane fasste sie fest an den Schultern, sodass sie gezwungen war, ihn anzusehen.

Ohne zu wissen warum, sagte sie „Ja“. Es war wie ein Impuls. So als wüsste sie, dass sie kurz vor der Lüftung eines Geheimnisses stand.
„Gut… aber dafür musst du mir vertrauen.“ Okay, das war der Beweis, dass es sich um eine Falle handeln musste.
„Ich vertraue nur zwei Menschen auf dieser Welt. Und du gehörst mit Sicherheit nicht dazu.“

Sein Blick glitt zu dem Leibwächter.
„Beim Himmel, Arjuna! Das ist kein Spiel. Soll ich es dir wirklich erst beweisen?“

Sie blieb hart.
„Ich glaube nicht, dass du mich überzeugen könntest. Egal was du tust.“

Im Bruchteil einer Sekunde hatte er seine 8mm gezogen. Er drehte sich um und versenkte ohne zu zögern die Kugel im Kopf des Mannes.
„Okay, das war recht überzeugend.“

Arjuna blickte auf den Leichnam zu ihren Füßen.
„Das war einer deiner Männer, Khane.“ Die weiße Hand Kalis.
„Glaubst du mir jetzt?“

„Um ehrlich zu sein: Nein.“ Es brauchte schon mehr, um sie zu beeindrucken. Arjuna war nicht dumm. Die Tätowierung konnte post mortum zugefügt worden sein. Der Mann nur ein Unterhändler. Unschuldig gestorben für die Pläne eines Verrückten.
Es sagte nichts.

„Das hatte ich befürchtet.“ Er lächelte schief.
„Warte.“ Er sicherte seine Waffe und zog eine Minizange hervor. „Dreh dich um.“
Sie wusste, was das bedeutete. Er würde den Locator-Chip entfernen. Ihre Chance zur Flucht.

Sie biss die Zähne zusammen – und vorbei war es.
Welch‘ große Wirkung doch eine augenscheinlich unscheinbare Szene haben kann.

„So.“
Er sah sie an. Und Himmelsdrache wusste, dass er eine Antwort erwartete.

Sie zögerte.
Konnte sie ihm trauen? Seit Anbeginn war er der ‚Feind‘.
Nun. Ein Versuch konnte nicht schaden. Sie konnte sich aus jeder brenzligen Lage befreien. Warum ihm seine Hoffnung nehmen, wenn sie dadurch so viel Profit schlagen konnte?
„Ja. Sicher.“ Die Lüge war 98%ig.

In diesem Moment brach ein orange-rotes Licht über den Brunnen herein und tauchte alles in die Farben der Morgenröte.
Es war symbolisch.
Arjuna hatte das Gefühl, dass bald etwas Schreckliches passieren würde. Die Gefahr war näher denn je…

KAPITEL II – Vertrauter Feind
Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Erddrachens und ließ ihn fast sympathisch wirken. Fast.
„Gehen wir.“

Sie schlenderten zum Auto zurück.
Niemand folgte ihnen.
Es war zu einfach.

„Sie werden dich suchen, Khane. Du bist nun ein Überläufer.“
Er lächelte matt. „Daran musst du mich nicht erinnern, Arjuna. Ich bin ein Profi.“
Nun, das bezweifelte sie doch sehr stark. Aber solange er sie nicht verriet, war er ab heute ihr bester Freund.
„Wohin gehen wir?“ Es gab überall Spione. Ihre anderen Identitäten wirkten nicht zu zweit.
„Ich habe Freunde in Zürich. Dort wird sich alles klären.“

Gesagt – getan.
Nachdem sie dreimal das Fahrzeug gewechselt und ihre Tarnung aufgefrischt hatten (er war nun ein 50-Jahre alter Immobilienmakler mit schütterem Haar und sie eine kesse Blondine im Punk-Stil), fuhren sie mit dem Taxi zum Flughafen. Anhand seiner Verbindungen zur Lufthansa bekamen sie einen Privat-Jet. Niemand stellte Fragen.

In Zürich nahmen sich sich ein Motel für die Nacht. Hotels mit Rang und Namen wurden schließlich zuerst überprüft.
Sie gaben sich als Vater und Tochter auf Geschäftsreise aus. Niemand schöpfte Verdacht.
Die Menschen können ja so naiv sein.

Khane brach auf Arjunas Rat hin sogar den Codex der Todeshändler und bestellte eine Pizza auf ihr Zimmer. Testweise. Um später nachprüfen zu können, wie weit die Organisation hinter ihnen lag.
Pizza Funghi.
Köstlich.

Während Arjuna reichlich zulangte, half sie Khane beim Lösen seiner Verkleidung. Die zweite Haut klebte fest und er wollte unter die Dusche.
Es herrschte eine zwanglose Atmosphäre, so als wären sie alte Freunde. Das beunruhigte sie etwas. Niemand von beiden sollte sich zu sehr an den Anderen gewöhnen, solange nicht klar war, welche Absicht dahinter stand. Reine Vorsichtsmaßnahme.

Später sahen sie noch zusammen „Dragonheart“ im Fernsehen. In ihrem gemeinsamen Zimmer gab es nur ein Bett. Deswegen lag er in der rechten Ecke. Sie saß in der Linken.
Ganz brav.
Vorerst.

Am nächsten Morgen (er hatte vorbildlich auf der Couch genächtigt und ihr das Bett überlassen), überreichte Khane ihr ihre Waffen: Handy, silberne 8mm plus den Tontodolch, den sie hatte im Kerker mitgehen lassen. Ihre Katana lag noch in Berlin. Hochsicherheitstrakt.

Nach dem Frühstück, das genüsslicher Weise nur aus wabbeligem Toast mit verkohlten Eiern und kaltem Kaffee bestand, hatte Arjuna beschlossen, sich den Dreck der letzten Tage von der Haut zu waschen. Und da nahm das Unheil seinen Ursprung.

Arjuna hatte absichtlich die Badtür einen Spalt breit offen gelassen. Khanes gieriger Blick sprach Bände. Ja, er begehrte sie. Das hatte er schon, als er sie noch nicht in natura gesehen und ihren Sexappeal live erlebt hatte. Wenn er Spiele treiben wollte, in Ordnung. Aber dann nach ihren Regeln. Es war nicht das erste Mal.

Sie lächelte reizend, während sie in ihre Unterwäsche stieg. An vereinzelten Stellen zeigten sich die blauen Flecken des letzten Kampfes. Trotzdem schien Erddraches Blick sie fast zu verschlingen. Gut. Je mehr Macht sie über ihn gewinnen konnte, desto besser. Und sei es mithilfe ihres Körpers.

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, während Erddrache so tat als würde er seine Waffe reinigen. Gefällt dir was du siehst? Lange würde er das nicht aushalten. Das wussten sie beide.

Arjuna ließ ihm kaum drei Sekunden, um das Bild ihrer nackten Haut in sein Gedächtnis zu brennen. Es würde das letzte Mal sein, dass er sie je so sehen würde. Sie war die Intoccabile. Was sie nicht freiwillig gab, das würde niemand bekommen. Es sei denn, er wählte den Freitod.

Himmelsdrache schlüpfte in ihr Kleid und erschien wieder im Wohnraum. „Bitte gib mir diese Phiole dort.“, orderte sie bestimmt. Erddrache gehorchte.
Kaum hatte sie das gläserne Gefäß in der Hand, schraubte sie es wie einen Schalldämpfer auf ihre 8mm und schoß ihm damit ungerührt in den Hals.

Khanes Augen wurden groß vor Schreck. Wahrscheinlich dachte er, dass sie ihn mit diesem Schuss vergiftet hatte.
„Warum…?“, röchelte er.
Arjunas Lächeln wurde kalt. „Keine Sorge. Du wirst nicht sterben. Ich gedenke nur, mit meiner Organisation in Kontakt zu treten. Die Substanz, die nun durch deinen Körper strömt, ist ein niedrig dosiertes Wasserschlangengiftkonzentrat, welches für rund 5 Minuten deinen Hörsinn vollkommen außer Kraft setzt. Ähnlich dem Tinnitus.“
Wie in Trance berührte Khane seine Ohren, die bereits zu summen angefangen hatten. Er verstand. Ja, er selbst hätte nicht anders gehandelt.

Seines Sinnes beraubt, nahm er sich wortlos ein Buch und fing an zu lesen.
Diese Geste wirkte, als würde er versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Doch in Wirklichkeit scholt er sich selbst für seine Nachlässigkeit. Einen winzigen Moment hatte er wirklich an Arjunas Menschlichkeit geglaubt. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Doch er war lernfähig.

Die Killerin nahm ihr Handy von der Kommode und wählte eine Nummer, die niemand zurück verfolgen kann, während sie sich -mit dem Rücken zu Khane- an das Motelfenster stellte. So konnte niemand ihre Lippen lesen.
Freizeichen.
„Werbeagentur Köhler&Köhler. Frau Morgenstern am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Channah hier.“
Pause. Es war ein Code II. Channah war ihr Name für Entführungen.
„Ich verstehe. Einen Moment bitte: Ich verbinde mit dem Chef.“
Arjunas Mund umspielte ein Lächeln. Alles passte.
„Hier ist Pfadfinder.“ Es war Blain.
„Himmelsdrache hier.“
Er sog scharf die Luft ein.
„Bei der Göttin, Arjuna! Es tut so gut, deine Stimme zu hören… Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir? Wo bist du jetzt?“
„Mir geht es gut. Seit gestern bin ich in einem Motel in Zürich. Zusammen mit Khane. Er hat mir zur Flucht verholfen.“
Pause.
„Ich weiß, Honey. Einer unserer Spione tat uns davon unterrichtet. Das ganze Hauptquartier ist in heller Aufregung. Kennst du seine Gesinnung?“
„Nein.“
„Und: Hast du eine Ahnung?“
Sie warf einen Seitenblick auf Erddrache. „Ich bin mir noch unschlüssig, Blain. Aber ich tendiere zu der Ansicht, dass er entweder ein verdammt guter Schauspieler ist – oder tatsächlich auf unserer Seite steht.“
„Das ist nicht genug, Arjuna. Bitte sei vorsichtig.“
Sie nickte still.
„Als ich im Quartier der Kali-Brüder war, konnte ich das Telefongespräch einer Frau entziffern, in dem es um das sogenannte „Projekt: Morgenröte“ ging. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat, Pfadfinder. Aber ich befürchte das Schlimmste. Bitte finde es heraus. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„Ich bin dabei.“ Im Hintergrund hörte man das rasent schnelle Tippen auf einer Tastatur.
„Was brauchst du im Moment?“
„Man hat mir fast alles abgenommen außer meiner 8mm und meinem Handy. Dementsprechend: Kugelsicheres Korsett, den Schlüssel für das erste Schließfach am Bahnhof in Zürich, Munition, das übliche Gift-Case und einen bombensicheren Wagen mit Decoder, Umspritzgerät, Farben und Nummernschildern. Das müsste reichen, um in drei Tagen bei euch sein zu können.“
„In Ordnung. Ich suche einen passenden Kontaktmann.“ Wieder das Geräusch vom Tippen auf der Tastatur.
„Hast du einen Computer in der Nähe?“
„Nein, es muss so gehen.“
„Okay. Herbert Grunewald. 1. Identität: Bankkaufmann bei der Schweizer Nationalbank, 2. Identität: Waffenschmuggler. Kann dir Munition, Gift und Schutzkleidung besorgen. Treffpunkt ist ein Café in der Innenstadt namens „Villa Florence“ – 11 Uhr. Erkennungsmerkmal: Die Frage Haben Sie schon das Kebap deluxe probiert? Antwort: Nein, aber ich habe gehört es soll vorzüglich sein. Noch Fragen?“
„Nein. Ich melde mich in acht Stunden wieder.“
„Gut. Viel Erfolg, Himmelsdrache. Bis dann…. Ach und: Pass auf dich auf.“
Arjuna hauchte einen Kuss auf den Ring an ihrem linken Mittelfinger. Ein gekröntes Herz mit Flügeln.
„Mach ich. Du auch auf dich, Pfadfinder. Bis dann.“
Sie legte auf.

Khane, der bemerkt hatte, dass sie sich umgedreht hatte, sah auf.
„Bist du fertig?“, fragte er in Gebärdensprache.
„Ja.“
Sie ging zu ihm und hockte sich vor ihn hin. Lange sah sie ihn an. So als versuche sie zu ergründen, um was es ihm bei der Sache ging. Die Offenheit in seinem Blick hatte sie nicht erwartet.
„Es sind noch 2 Minuten.“, sprach sie deutlich. „Ich werde dir ein Gegenmittel spritzen. Bitte gib mir deinen Arm.“
Er tat es.
Sie förderte eine weitere Phiole aus ihrem Stiefel zu Tage.
Wie eine Luftdruckpistole setzte sie sie an die Vene in seiner Armbeuge an – und schoss ab.

Er zuckte kaum mit einer Wimper, als der Schmerz ihn durchströmte.
Langsam rieb er sich über den blauen Fleck, der sich soeben gebildet hatte.
„Danke.“
„Wofür?“, fragte Arjuna, als sie die leeren Phiolen auf dem Nachttisch ablegte.
„Dafür, dass ich noch lebe.“

KAPITEL III – Nacht
Die Todeshändlerin schenkte ihm ein wissendes Lächeln. Erwiderte jedoch nichts.
„Gehen wir.“
„Wohin?“ Khane rührte sich nicht von der Stelle. Misstrauen in den Augen. Wie süß. Dachte er, sie würde ihn verraten? Hätte sie es wirklich darauf angelegt, wäre er längst tot.
Sie seufzte, drehte sich halb zu ihm um. Hatte das Gefühl, sie wäre Babysitterin statt Profi-Killer.
„Wir besuchen einen Herrn in der Villa Florence. Dort bekomme ich Munition, Gift und Schutzkleidung. Ach und-“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „-wenn du ganz lieb bist, bekommst du auch etwas ab.“

Das Café hatten sie innerhalb von fünfzehn Minuten erreicht. Es war 10:58 als sie es betraten. Timing war in ihrem Job alles.
„Ich sehe niemanden, der auf die Beschreibung dieses Herbert Grunewald passt.“, zischelte Khane zwischen den Zähnen hervor, die ein unschuldiges Lächeln mimten.
„Dann mach‘ mal die Augen auf, Bond. Dort, in der hinteren linken Ecke.“, lächelte Arjuna liebenswürdig zurück. Und bahnte sich dann ihren Weg zum leeren Tisch daneben, während sie sich zum x-ten Mal fragte, wie es Erddrache mit solcher Unprofessionalität geschafft hatte, derart erfolgreich zu werden.

Die Nebelkrähe setzte sich und studierte interessiert die Speisekarte, während ihr Partner es schließlich doch geschafft hatte, sich durch die Unmengen an Gästen zu schieben, und neben ihr Platz zu nehmen.
Ihr Verbindungsmann war nicht dumm. Er hatte sie schon beim Betreten erkannt. Obwohl er recht robust schien, schwitzte er sichtlich. Spielte nervös mit seiner Sonnenbrille und musterte Arjuna eine Weile von der Seite, ehe er sich zu der Frage „Haben Sie schon das Kebap deluxe probiert?“ durchrang.

Himmelsdrache lächelte reizend unter ihrer brünetten Perücke.
„Nein, aber ich habe gehört es soll vorzüglich sein.“
Herbert nickte und gab den beiden am Nebentisch mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihm unauffällig zu folgen. Sein Weg führte direkt zu einer benachbarten, derzeit leer stehenden, Lagerhalle. Vier bullige Leibwächter bewachten den Eingang, ließen die Fremden aber nach einer kurzen Einweisung von ihrem Boss durch.
Kaum hatte sich das schwere Tor geschlossen, nahm Herbert seine Sonnenbrille ab und sah Arjuna an: „Man sagte mir, sie bräuchten Munition, Gift und Schutzkleidung, Lady.“ Sein Blick glitt kurz zu Khane, als wäre er nichts weiter als ein läufiger Hund. „Gehört der da zu Ihnen?“ Man hörte das Entsichern von Pistolen.
„Ja. Zur Zeit schon.“ Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Eine ganze Truppe nur zu ihrem Schutz. Wie niedlich. Wussten Sie denn nicht mit wem sie es hier zu tun hatten? Naja, die Geste zählt.
„In Ordnung.“ Das galt wohl als Kommando für seine bulligen Jungs. Sie senkten die Waffenläufe.

„Da unsere Zeit knapp bemessen ist, will ich gleich zum geschäftlichen Teil übergehen, Lady. Hier habe ich-“ Er winkte einem seiner Leibwächter, der einen schweren schwarzen Aktenkoffer trug. „-Munition für ihre 8mm. Die Ration reicht für 200 Schuss. Eine Frau mit ihren Kenntnissen kommt damit locker bis zur Grenze – und darüber hinaus. Desweiteren-“ Ein weiterer Stier schleppte eine silbrig schimmernde, etwa Brillenetui-große Box und legte sie auf die Holzplanken neben den aufgeklappten Koffer. „Genug Toxikum für 50 Mann. Die grüne Phiole enthält Wasserschlangengift-“ Sein Blick glitt zu Khane. „-falls Sie es noch benötigen.“ Der junge Mann zuckte unwillkürlich zurück. „Die blaue Phiole beinhaltet …“