Augenblick

Es war ein Dienstag, als ich begriff.
Kein besonderer Tag. Nicht wärmer als sonst in den letzten Septembertagen oder sonst wie auffällig in Typographie und Verlauf. Einfach ein ganz normaler Dienstag.

Das Einzige, was ihn von den sonstigen 364 Jahrestagen abhob, war die Tatsache, dass ich endlich zu mir selbst und der tiefen Wahrheit in mir gestoßen war. Und diese Wahrheit lautete: Ich liebte SIE. Eine andere Frau.

Yoko saß vor mir und sagte nichts. Sie war einfach.
Die 1,65 Meter kleine Japanerin mit dem überaus ‚deutschen‘ Nachnamen Bergmann, welche seit ihrem 5. Lebensjahr in Berlin lebte und Kunstgeschichte im 1. Semester studierte. Auf den Tag ein Jahr jünger als ich und seit vier endlosen Monaten eine meiner besten Freundinnen. Wir lernten einander beim Kickboxen in der Stadtmitte kennen. Sie, die seit ihrer Jugend Kampfsport betrieb und in Ausdauer und Anmut einer Tigerin glich, und ich, die ich nach dem Abitur den Sport hatte schleifen lassen und nun wieder etwas Schwung in mein Leben bringen wollte. Wir waren wie zwei Seiten derselben Medaille.

Nach der ersten Kursstunde gingen wir zusammen essen, waren uns auf Anhieb sympathisch. Sie kaufte mir ein Eis, mit dem sie meine gerötete Wange kühlte. Als Anfänger hatte sie mich einweisen sollen, doch meine Reflexe -träge geworden vom vielen Zuhausehocken- schienen zu schlafen. Es kam wie es kommen musste: Sie verpasste mir eine comicreife Kopfnuss. Zum Glück war ich hart im Nehmen und Yokos Kraft wohl dosiert. Alles halb so schlimm.
Immerhin lernten wir einander auf diese Weise kennen.

Einem Treffen folgten viele weitere und mir wurde bald klar, dass diese Frau, der fleischgewordene Männertraum, meine kühnsten Erwartungen übertraf. Witzig und charmant, fesselte sie mich alsbald mit ihrem Einfühlungsvermögen und innerer Harmonie. Einen Hehl um ihre Homosexualität machte sie nie.
Es war, als wäre sie das Gewässer, welches meine brodelnde Lava zum sanften Dahinfließen brachte. Sie Ying und ich Yang.

Schon seit längerem hatte ich erkannt, dass wahre Freunde schwer zu finden sind. Nach einigen Enttäuschungen mit Kumpeln, die stets meine Aufmerksamkeit und Gutmütigkeit forderten, aber selbst nie zur Stelle waren wenn ich sie brauchte, hatte ich erst einmal genug von Beziehungen jeder Art.
Ich war seit jeher ein Einzelgänger, wenngleich ich einen großen Bekanntenkreis besaß, und die Stille der Einsamkeit brach sich an mir wie an einem Schild. Das Wort Langeweile kannte ich nicht. Ich fand immer eine Beschäftigung, die mich ausfüllte. Wer brauchte schon oberflächliche Freunde, wenn er die volle Vielfalt seines Selbst als Spiegel besitzt?

Doch dann kam sie.
Und mit ihr kamen die Zweifel. Fragen, nach dem Warum. Fragen, die ich nicht haben wollte. Fragen, die herauskitzelten was offensichtlich schien. Yoko war seit Jahren die einzige wirkliche Freundin, die ich hatte.

Sie forderte nie, sondern gab freimütig und kompromisslos. Uneigennützig lag es ihr fern, Andere ändern zu wollen. Sie schien wie ein Traum.

Und da war noch mehr…
Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr verfing ich mich in ihrem Zaubernetz. Einst zogen mich meine ‚Freunde‘ damit auf, dass ich bisexuell sei. Doch wirklich beweisen konnte ich es nie. Sicher, da waren einige Freundinnen gewesen, die mir sehr nahe waren. Doch trotz ihrer Ästhetik und ihrer Schönheit, trotz ungenutzer Gelegenheiten und dem inneren Verlangen, sie zu berühren. Es fehlte etwas. Ich konnte nicht benennen, was es war. Ich wusste nur, dass es nicht da war, wo es sein sollte. Und da dieses Gefühl nie kam, nahm ich an meine Zuneigung gegenüber Frauen bezöge sich auf ihre rein optischen Reize und den geheimen Wunsch, etwas Neues auszuprobieren. Mehr nicht.

Dachte ich.
Doch nun war sie da. Yoko.

Und sie war… einfach göttlich. War sie bei mir, hörte ich die Violinen singen. War sie mir fern, spürte ich ihr Dasein trotz allem spirituell wie eine Umarmung. Ihr Lächeln ließ die Sonne aufgehen. Und ihre Tränen bargen ganze Geheimnisse aus schwarzer See.
Ist das Liebe?

Wo beginnt das, was man Liebe nennt? Ist es mehr als nur der Wunsch, jemanden zu besitzen? Wer liegt die Grenze fest für das was unnennbar ist?

Und nun sitze ich hier, auf ihrem roten Sofa, und sehe sie an. Blicke nicht nur, sondern schaue. Ich spüre ihr Lächeln fast körperlich. Sie wartet. Auf eine Antwort. Die Antwort auf eine Frage, die nie offen gestellt wurde und doch wie ein Schatten zwischen uns steht.
Im Hintergrund läuft „All the Things She Said“ von t.A.t.U. im Radio. Welch‘ Ironie. Ein lesbisches Pärchen, das sich über alle Hindernisse hinwegsetzt und eins wird.

Eine Weile sinniere ich über diese tiefe Symbolik. Den Moment. Die zahllosen Alternativen.
Sie wartet still und sagt kein Wort. Voller Ergebung in das, was da kommen wird. Ohne Druck. Nur mit offenen Armen. Sie ist ein lebendes Mysterium.

Ich gehe in mich und plötzlich ist die Antwort auf das Rätsel, das ich mich nicht zu lösen getraute, ganz einfach.
Der Schleier des Augenblicks lichtet sich – und hinter ihm wartet die reinste Liebe die ich je sah.

Es gibt keinen Zweifel mehr. Ich bin mehr als meine Angst vor Veränderung und dem, was Andere denken könnten.
Ich lächle, ehe ich mich vorbeuge um sie zu küssen.

Meine Königin.
Meine Zukunft.