Vampirblut

Das Tagebuch von San aus „Die Chronik der Vampire“

16. Februar 2005. Dies ist der Tag als ES begann. Der Tag, an dem ich einer von Ihnen wurde: Ein Kind der Nacht. Eine Sterbliche mit einer unsterblichen Seele.
Aus eigenem Wunsch rief ich IHN zu mir. Ihn, der mir in meinen Trämen erschienen war, seit ich wusste, dass ER wirklich existiert. Man nennt ihn Louis. Und er ist… ein Vampir.

Dies ist mein Tagebuch. Es notiert, wie alles begann. Und – wie es vielleicht noch kommen wird. Ich habe viele Namen in meinem Leben getragen. Doch nun nennt man mich San Vampirblut, Tochter Louis‘ und Armands. Und dies ist meine Geschichte aus der Chronik der Vampire.

Caput I

16. Februar 2004.
Ich erinnere mich noch gut an diesen einen Tag. Es war der zweite Tag nach meinem 19. Geburtstag. Zu dieser Zeit war man in diesem Alter schon erwachsen. Eine Frau. Doch ich hatte nie aufgehört, mich wie ein Kind zu fühlen. Unschuldig, idealisiert, verträumt, tolerant und begünstigt mit Augen, die sahen, was viele nicht einmal ahnen konnten. Ja, ich war anders. War ich schon immer gewesen. Meine Wahrnehmung glich einem Trichter, der den Blick in die Welt hinauswarf. Die meisten Menschen sehen in Rastern, beschränkt durch ihre fünf Sinne. Doch ich… ich fühlte die Energien, die alles umgaben. Ich sah die Zusammenhänge, die Wissenschaftler mühsam enträtseln. Ich hörte die Sonne aufgehen, spürte das Lächeln der Tiere und roch die Würze der Wolken. Die Welt eröffnete sich mir als ein komplexes Zusammenspiel aus Licht, Farbe, Klang und Emotionen.
Und ich befand mich inmitten dieses Mysteriums. Ich habe nie verstanden, warum die Menschen nicht vor Dankbarkeit für die sie umgebende Schönheit weinten. Sie waren auf sich selbst beschränkt, egoistisch und kalt. Spätestens als ich 14 wurde, wusste ich das. Und dies war der Grund, warum ich nach einer Antwort suchte. Eine Antwort auf die Frage, wer ich sei. Eine Antwort auf die Frage, wer meine Verletzlichkeit als Gabe statt als Makel betrachten könne. Eine Antwort auf die Frage, welche Wunder fremde Welten bergen. Eine Antwort auf die Frage, welch größeres Schicksal mir noch bevorstand. Eine Antwort auf die Frage, wer mein Leid der Andersartigkeit erlösen könne… Und erhört hat diesen Ruf – ein Vampir.

Ich bin nicht naiv. Natürlich hatte mich die Gesellschaft Glauben machen wollen, dass „so etwas“ nicht existiere. Schließlich lebten wir in einer aufgeklärten, rationalen Welt, in der man alles analysieren, erklären und berechnen könne. Doch ich habe noch nie viel auf die -sogenannte- Wissenschaft gegeben. Seit meinem dreizehnten Lebensjahr beschäftigte mich das Übersinnliche. Ich wurde geradezu davon angezogen wie die Motte vom Licht. Und seit drei Jahren war ich eine von jenen, die man >>Hexen<< nennt. Ich habe dieses Wort schon immer gehasst. Es ruft Ammenmärchen und unterdrückte Ängste vor dem Unbekannten hervor, die die Menschen seit jeher auszeichnen. Die Menschen waren noch nie bekannt dafür, ihre Welt mit anderen teilen zu wollen. Und schon gar nicht mit >solchen<. Doch ich war nicht eine von >solchen<. Ich war anders. Keine hakennasige, alte, buckelige Frau, die mit einer schwarzen Katze auf der Schulter auf ihrem Besen zum Blocksberg fliegt – oder wild fluchend mit vergifteten Nadeln in Voodoopuppen sticht und dem Satan huldigt. Das ist reiner Aberglaube. ICH war -wenn die Menschen schon eine derart dualistische Einordnung treffen müssen- eine gute Hexe. Eine weiße. Ich half den Menschen und mein höchstes Ziel war der Einklang von Mensch und Natur. Ich beugte mich ihren Gesetzen, lebte nach den Zyklen der Natur, huldigte den Alten Göttern -die schon lebten ehe die Zeit erfunden wurde- und führte Rituale für Wohlstand, Liebe und Glück aus. Ich half, wo andere zerstörten. Und ich glaubte. Ja, ich glaubte. Das tue ich bis heute. Ich glaubte an das Übersinnliche; das-was-man-nicht-erklären-konnte. Dinge, die nicht sichtbar – aber dennoch existent waren. Ich glaubte nicht an den Teufel, als christliches Fabelwesen zur Kontrolle. Ich glaubte an Naturgeister, Elfen, Kobolde, Geister – oder Dämonen. Ich glaubte nicht nur – ich war sogar fest davon überzeugt. Oft genug war mir >von oben< -wie ich es liebevoll nenne- bewiesen worden, dass derartige Phänomene existieren. Ich selbst besaß die Gabe, Elfen zu sehen, die ihre Bahnen um meine Rosmarin-Öllampe zogen… Und nie habe ich mich davor gefürchtet. Es WAR einfach.

Ob ich für derlei Spiritualität als verrückt erklärt worden war? Sicher. Für die Menschen ist es immer leicht, Dinge zu verurteilen, die sie nicht kennen (wollen). Und oft genug, wurden lächerliche Erklärungen heraufbeschwört um mich zu entmutigen. „Du hast zuviel Sci-Fi-Filme gesehen“ oder „Du hast sicher nur geträumt, mein Schatz“ waren solche Ausreden, solch‘ Flucht vor der Wahrheit. Doch ohne mich.
Wahrer Mut impliziert, dem ins Auge zu sehen was in der Tiefe lauert. Auch wenn man am liebsten wegrennen mag. Man ist nur eins mit sich, wenn man >hell< und >dunkel< zu einem Ganzen vereint hat.
Doch sicher interessiert es euch, wann ich mich dazu entschieden habe, einer von jenen zu werden, die zwischen den Welten leben. Nun.
Ich habe immer viel nachgedacht. Zuviel wahrscheinlich. Doch in mir schlummerte eine Philosophin aus alter Zeit. Ich konnte nicht anders, als mir selbst Fragen zu stellen: Über mich, das Leben, die Menschen. Und… über die Vampire. Ja, sie haben mich immer fasziniert, diese Wesen der Dunkelheit. Nicht ihre Macht, ihre Unsterblichkeit, ihre Schönheit – nein, das war zu oberflächlich und kratzte nur an der Wahrheit, die die Menschen kennen. Ich sehnte mich nach ihrem Leid, ihren Sinnen – die sahen, was kein Mensch zu sehen imstande ist. Doch vor allem, vor allem sehnte ich mich nach ihnen selbst. Ihrer düsteren Nähe, die so kalt war wie Eis und so wärmend wie Feuer. Ihren Augen die begehrten und hassten, ihren Zähnen die Leben nehmen und geben. Ihrem unsterblichen Kuss. […]

San hielt inne.
Ein unbestimmtes Gefühl erfüllte sie. Sie seufzte tief und ließ den mit schwarzer Tinte durchtränkten Kalligrafie-Pinsel sinken. Ihr leerer Blick richtete sich auf die Pergamentseiten ihres Tagebuches, dessen Seiten im Schein der Menora geheimnisvoll flackerten.
Auch heute noch wirkt ihr Zauber auf mich. Und das nach fast fünfzig Jahren.
Sie hob den Kopf und lächelte.
„Du bereust doch nicht die Entscheidung, die du damals getroffen hast, mein Herz?“
„Nein, Louis. Das tue ich nicht.“, sagte sie ohne sich umzudrehen. Sein Kommen hatte sie längst gespürt, noch ehe er den Raum betreten hatte.
Lautlos wie eine Katze näherte er sich ihrem Sekretär und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Komm San, das >Essen< ist fertig. Später kannst du dein geliebtes Tagebuch um weitere Seiten bereichern. Du hast Zeit.“
„Das ist wahr.“, lachte sie und erhob sich schneller als das menschliche Auge es wahrnehmen könnte, um an der Seite ihres geliebten Louis in die Vorhalle der Gruft zu eilen.

Caput II

San leckte sich genüsslich den letzten Tropfen Blut von der Lippe. Es schmeckte noch warm. Süß mit einem leicht erdigen Nachgeschmack. Offensichtlich hatte Alanna eine 30-jährige Staatsanwältin während ihrer Periode erwischt. Nun, es sei ihr verziehen. Obgleich Armand sicherlich einen goldgelockten Jüngling bevorzugt hätte – wie sie wusste.
„Armand?“ San richtete ihren durchdringenden grünen Blick auf ihn. Ihre schwarz umschminkten Augen verliehen ihr unumstrittene Autorität. Trotz ihrer Jugend.
Der in schwarze Gewänder Gekleidete sah sie an. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über seine Lippen. „Ja, San. Ich teile deinen Gedanken. Nehmen wir Alanna und Jules mit?“
Sans Blick suchte die beiden Bediensteten. Alanna, dick und rothaarig, war ihre exzellente, mütterliche und stets gutgelaunte Köchin. Auch wenn Blut eine Notwenigkeit im Leben eines Vampirs war, so gedachte die >Prinzessin der Vampire< nicht ihre Essensgewohnheiten aus diesem Grund zu vernachlässigen. Und Jules… nun Jules war eben Jules. Ein kleiner, liebenswerter braungelockter Knabe, dessen Leben Armand in Paris verschont hatte, wodurch er ein Schläfer wurde. Ein Gefangener zwischen Leben und Tod. Er dienten ihnen als Wegzehrung für lange Strecken; und war auch sonst ganz nützlich wenn es um Tagesdienste ging.
San nickte langsam. „Sie sollen selbst entscheiden.“

Armand neigte zustimmend den Kopf und übermittelte den beiden Genannten ihren Entschluss telepathisch. San lächelte und nahm noch einen Schluck Blut aus ihrem bronzenen Kelch, während Louis ihren Blick suchte. „San, du sollst das doch nicht tun.“, tadelte er sie neckend als sei sie ein Kind. Ich toleriere ihre dunkle Gabe, aber es missfällt mir, dass sie ihre Macht demonstrativ mit Armand teilt. Er hat ohnehin einen starken Einfluß auf sie. Louis scheint geknickt, dachte San. Auch wenn Vampire keine Emotionen zeigten. Doch sie wusste, er könnte ihr nie böse sein, selbst wenn er wollte. Und sie fühlte seinen Stich der Eifersucht mit einem Funken Zufriedenheit.
San erhob sich und schritt zu ihm. Sie kniete neben ihm und legte vertraulich ihren Kopf mit den braunen Locken auf seinen Schoß. Wie sie es so oft getan hatte. „Ach Louis, mein Herz. Ich vergaß. Bitte verzeih mir.“ Louis streichelte ihr zärtlich über das widerspenstige Haar. Natürlich, meine Prinzessin. „Ich fühle mich so ruhelos, Louis. In dieser Villa… ist alles so beengend und erdrückend. Es ist so still und grau hier. Ich brauche einen Ortswechsel, eine Reise. Lass uns nach Ullapool gehen. Nur für einige Wochen. Bitte.“
„Wir kommen mit.“, meldeten sich in diesem Moment einstimmig Alanna und Jules zu Wort.
San lächelte und entblößte dabei ihre spitzen, weißen Eckzähne. „Dann lasst uns packen gehen.“ Und damit war der Entschluss endgültig.

San stand bedächtig inmitten ihres atmosphärischen Zimmers, am Ende des Empfangsaals und sah sich um, als sähe sie diesen Raum zum ersten Mal. Aus dem CD-Player auf dem Nachttisch neben dem Dunkelblau behangenem Himmelbett drang gedämpft „Poison“ von Groove Coverage. San hatte ihren Bezug zur Außenwelt nie verloren. Und sie liebte Musik.

Sie wippte mit ihren schwarzen Schnürstiefeln aus Veloursleder mit, während sie überlegte, was sie mitnehmen sollte. Ihr ruheloser Blick glitt durch das spärlich erleuchtete Zimmer. Gleich links neben der doppelangeligen Tür aus Kirschbaumholz hing eine Fackel an einem verzierten Eisenring. Dahinter, unlängst hinter der Tür, stand eine Eichentruhe mit filigranen Muster, in dem sich ihre wenigen Wertsachen und das gestohlene Geld der Leichen befand. Direkt darüber hing ein weißes Pergament mit dem chinesischen Symbol für Schwert in Zinnoberrot, angelehnt an den Film „Hero“ sollte es sie stets an das Prinzip >Alle unter dem Himmel< erinnern. Bedenkt man das große Ganze, so ist das Leid eines Einzelnen bedeutungslos. Außerdem versinnbildlichte es die drei höchsten Ziele des Schwertkampfes. Und San war Katana-Kämpferin seit sie vor fünfundzwanzig Jahren in Okinawa gelebt hatte. Ihr rund 70 cm Kurzschwert -das sogenannte Wakizashi- „Balmaran“ legte sie nie ab. Es ruhte stets an ihrer rechten Seite. Wie Uma Thurman in „Kill Bill“ trug sie es in einer mit silbernen Ornamenten (in Form des Hattori Hanzo-Drachenemblems) verzierten Schwertscheide aus schwarzem Hartleder, befestigt mit zwei Hartlederriemen an Oberschenkel und Gürtel. Es war Schutz und Leidenschaft in einem.
Rechts neben der Truhe ruhte ihre Statue der Artemis, ein Andenken ihrer Griechenlandreise. Sie war rund zwei Meter hoch, aus Alabaster und gekrönt mit den Blumen der Jahreszeit. San liebte sie abgöttisch. Sie personifizierte die jungfräuliche Jägerin als Aspekt der Großen Drei – und Der Deren Antlitz verborgen lag. Zu Füßen der Statue fand sich rechts eine kleine, abgenutzte Buddhastatue aus China und davor drei mit Erde gefüllte Becher mit Lavendel-, Rosmarin-, Weihrauch- und Minzräucherstäbchen. Eines davon brannte.
Darüber hing eine entzündete Fackel an einem Eisenvorsprung an der Wand. Daneben befand sich eine etwa fünfzig Zentimeter breite Wandeinsparung, die ins Nebenzimmer von Louis führte und mit einem roten Wandteppich abgetrennt war. Rechts daneben -demnach in Blickrichtung von der Tür- stand Sans Schminkkommode mit dem dreigeteilten Spiegel, zu dessen beiden Seiten je ein rot geknotetes chinesisches Glücksmünzenband hing. Auf dem Tisch befanden sich eine Menora, unzählige Parfümflaschen, schwarzer Eyeliner, Wimpertusche und -zange, Lidschatten in zwei Farben (Schwarz und Dunkelgrün), etwas Lipgloss und allerlei anderer Schnickschnack, von dem sich San ungern trennte; darunter eine kleine Elfenstatue, die sie zu Weihnachten von ihren Eltern bekommen hatte. Davor befand sich ein antiker Sitzhocker mit Kissen.

San spielte gedankenverloren mit dem Griff ihrer Wakizashi, während sie ihren ruhelosen Blick weiter durch das Zimmer schweifen ließ, das ihr eine zweite Heimat geworden war.
Gleich rechts neben der Kommode aus Kirschbaumholz befand sich ihr kleiner, quadratischer Nachttisch mit einer Schublade im oberen Bereich. Hier verwahrte sie ihre selbstgegossenen Kerzen aus Alannas Hand und ihre wenigen CD’s. Auf ihrem Nachttisch stand, wie bereits erwähnt, ihr CD-Player in den Farben Blau-Silber. Daneben, unübertroffen -denn es nahm rund ein viertel des Zimmers ein-, ruhte ihr Himmelbett in Dunklblau, unter dessen weichen Kopfkissen San ihr heißgeliebtes Tagebuch vor den Blicken Neugieriger verbarg. Über dem Bett hing an einer freien Stelle eine afrikanische Schutzmaske; davor lag ihr Imitat eines Grizzly-Bären auf dem Boden, um sich im Winter die Füße zu wärmen.
Quer zur Wand aus grauem Stein stand ihr Sekretär – erleuchtet vom Licht einer Menora aus abgenutztem Messing. Auf ihm befanden sich eine längliche, mit Kalligraphen verzierte, Holzschale in der ihre Schreib- und Zeichenfeder ruhte, direkt daneben -als sei es sein Zwilling- lag ihr Kalligrafiepinsel aus Wildschweinhaar. Links neben dieser Zeichenbox standen ihre kleinen, beschmierten Tintenfässer mit Taubenblut- und schwarzer Tinte. Ansonsten ruhte auf ihrem Sekretär noch ein Bogen Pergamentblätter und ihre Tabelle zu den Familien der Schriftzeichen der chinesischen Schrift (Piktogramme, Indikatoren, Ideogramme, Phonogramme, Ableitungen und Leihwörter) plus ihre Übersicht der Striche, aus denen sich ein Zeichen zusammensetzt (insgesamt 24). Davor befand sich das Bild ihres Samurai-Meisters Hayumi Hanaka, von dem sie die chinesische Schrift und den Umgang mit dem Schwert lernte. In ihm fand sie einen Gelehrten, der ihr Wissen schulte und ihren Geist befreite.

San lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken an ihren Sensei. Er war ein rüstiger Mann um die 60, mit einem hageren, schönen Gesicht, in dem wachsame Augen saßen – und stoischer Ruhe. „Arjuna-chan“, hatte er immer zu ihr gesagt. „Ein warmer Sake ist immer besser als ein gewonnener Kampf.“
San grinste als sie die Stimme Hayumis in ihrem Kopf widerhallen hörte. Er war wirklich ein unglaublicher Mensch gewesen. Ein Samurai der alten Tradition: „Der, der dient“. Er trug unter seiner Rüstung einen Kimono in Zinnoberrot, darüber eine fließende, rockähnliche Hose -die Hakama- und eine kurze lose Jacke mit Blütenmotiv. Seine Waffen legte er nie ab: Die Katana, das typische Kampfschwert der Samurai und das zweite, etwas kurz klingigere Schwert, Wakizashi, welches eher in Räumen benutzt wurde. Beide zeichnen sich durch ihre Krümmung in Form einer Neumondsichel und die oft wellenförmige Grenzlinie Hamon aus, die den harten Stahl der Schneide vom weicheren des Schwertkörpers trennt.
Gemäß der Tradition identifizierte er sich mit der vergänglichen, zerbrechlichen Schönheit der Kirschblüte. San erinnert sich noch gut daran, wie ihr Hayumi diesen Gegensatz erklärte: „Die Kirschblüte“, so sagte er „bleibt nicht am Baum, bis sie welkt. Sie fällt, wenn sie vollkommen ist. Genauso stellen wir uns vor, in der Schlacht zu sterben.“ Er war tief im Moralkodex der Samurai -dem Bushidō: Weg des Kriegers- verwurzelt: lieber Seppuku („Harakiri“) als die Gefangennahme. Rache, Ehre, Loyalität und Opfer. Doch im Gegensatz dazu pflegte er die Tee-Zeremonie, übte sich in Kalligrafie, spielte Go und besuchte regelmäßig die Aufführungen der No-Dramen. Die Teezeremonie bildete für ihn eine spirituelle Handlung. Hier fand er Ruhe und genoß den Augenblick.
Er war ihr wahrlich ein hervorragender Meister gewesen. Herrisch und streng, unnachgiebig wie ein Kirschbaum – doch gleichzeitig gütig, weise und liebend wie ein Vater. Sie hatten sich vom ersten Augenblick an verstanden.
San seufzte.

Sie schob den Gedanken an Hayumi beiseite. Sie würde ihm in ihrer Abschrift noch den nötigen Respekt zollen. Nun gab es Dinge, die Vorrang besaßen: Die bevorstehende Reise nach Schottland. Sie wusste, dass Louis sie tadeln würde, wenn sie wieder so unentschlossen wäre.
Ihr Blick glitt weiter durch den Raum – auf der Suche nach dem gewünschten Objekt. Rechts neben ihrem Sekreatär stand der massive, zweitürige Kiefer-Kleiderschrank, in dessen Tiefen sich Unmengen an Qipao’s -dem traditionellen chinesischen Kleid, das sie auch im Moment trug- und ähnlich exotische Kleidung befand, welche sie bei ihren Reisen erbeutet hatte. Sie bekam alles was sie wollte.
Das Geheimnis dieses antik anmutenden Schrankes war jedoch sein >Innenleben<. Direkt hinter ihm -für Erfahrene erkennbar an der kaum sichtbaren Schlaufe links- befand sich ein Geheimgang nach außen. Er diente als Fluchtweg. Ihrer gab es insgesamt vier in ihrer Gruft, dafür hatte San aus Voraussicht gesorgt. „Vorsicht“, so wusste sie „war die Mutter der Porzellankiste“. Dieser Geheimgang maß also ungefähr einen Meter in der Breite und schlängelte sich in dickem, grob behauenem Stein und spärlicher Beleuchtung (damit kein Licht in ihr Zimmer schien) nach oben. Er endete -als mit Gras bewachsene, und demnach nahezu unsichtbare, Holzluke- direkt hinter dem Grabstein einer „Stefanie Fox, *12.5.1956 -|-12.7.1981 – beloved mother and wife – never forget“ hinter einer riesigen Eiche, deren Wurzeln bis in den Geheimgang drangen und es nötig machten, den Weg an einigen Stellen nur an die Mauerseite gezwängt passieren zu können.
Rechts daneben, demnach gleich neben der Tür, stand ihr Sarg. Ihr ganzer Stolz. San hatte ihn speziell anfertigen lassen: Schneeweiß mit silbernen Ornamenten an den Seiten, welche den Mythos von Isis und Osiris wiedergaben, 1.95 x 1m, ausgelegt mit feinster Seide und den Vorzügen eines Satinkissens unter dem verschnörkeltem Silbergriff – und auf dem Deckel ihr Name unter dem keltischen Kreuz mit der Widmung „Wie will man einen Tropfen vor dem Austrocknen bewahren?“ Ein Kunstwerk. San lächelte.
Über ihrem Sarg hing ein die ganze Wand ausfüllendes Bücherregal mit Werken von Ovid und Horaz, Shakespeare, Heinrich Heine, Bertold Brecht, Hermann Hesse und Goethe. Daneben ihr Exemplar des bushido -das Handbuch des Kriegers-, Bücher über die Kulturen der Welt, okkulte Schriften, Historienromane, Gedichtbände, Herr der Ringe und Lexika mit Sternenkarten. San bildete sich gerne weiter, um nicht den Anschluss an die moderne Welt zu verlieren. Und sie hatte nie ihre Leidenschaft zu Büchern verloren.

San seufzte tief und öffnete zielstrebig die Schrankseite, hinter der sich ihr Reisekoffer verbarg. Sie packte gezielt ihre Sachen und verfrachtete einige Bücher hinzu, ehe sie ihn schloß. Dann holte sie aus der abschließbaren Geheimtruhe unter ihrem Bett ihren silbernen Aktenkoffer und öffnete ihn professionell. In ihm befanden sich, geschützt durch nachgiebige Kunstwolle, zwei Freiräume: Einer für ihr Kalligrafie-Etui, der Andere für ihr Tagebuch. Sie würde es nie aus den Augen lassen. Zuviel Erkenntnis, zuviel Wahrheit die nicht gesehen werden durfte, befand sich darin.
Sie stellte beide Koffer auf das Kunstfell und stellte die Musik aus. Sie wartete.
San empfing Alanna mit einem „Ich bin bereit“, ehe diese die Möglichkeit besaß, zu klopfen. Ihre Sinne waren… anders.

In der Vorhalle traf sie auf ihre beiden Gefährten. Louis‘ -wie immer- leger gekleidet in ein beige farbenes Jacket mit Hose, welches seine unnatürlich Blau strahlenden Augen perfekt hervorhob, die langen blonden Haare zu einen Zopf gebunden; Armand -wie immer- verhaftet in der alten Zeit, gekleidet in einen schwarzen, langen Umhang mit Spazierstock, die Haare offen. Beide wirkten anziehend und düster.
Alanna und Jules standen etwas abseits – ihre Taschen in der Hand.
San lächelte strahlend.
„Lasst uns gehen. Es ist Zeit.“

Caput III

San atmete tief die kühle Seeluft ein. Frisch und salzig. Mit einem Hauch Freiheit.
Sie befand sich an der Heckseite der Fähre und lehnte elegant an der Brüstung. Hinter ihr tummelten sich einige Urlauber auf dem Sonnendeck, obwohl es Mitternacht geläutet hatte. Ihre Sinne trugen ihr mitunter einen Gedanken, ein hektisches Gefühl oder einen Hoffnungsschimmer der Sterblichen zu. Ob er mich wirklich liebt? Er hätte es mir direkt sagen sollen, ehe es zu spät ist. Nun ist er auf Geschäftsreise in London. Ob ich es je erfahren werde? San kniff die Augen zusammen. Liebe, schnaubte sie fast verächtlich. Kein Sterblicher hatte wirklich eine Ahnung was das bedeutete. Sie sehnten sich nur nach Bestätigung und die Zuneigung ihres Gegenübers sollte sie selbst zufrieden stellen. Alle Liebenden waren Egoisten. San schnaufte und blendete die junge Magdeburgerin aus.
Soll sie doch Cupido treffen…

„Honey.“
San drehte sich zu der Stimme um. Es war Alanna. In ihren eigenen Gedanken versunken hatte die Vampirprinzessin ihre Dienstmagd nur verschleiert gespürt.
„Ja?“
„Meister Armand und Louis warten auf Euch. Tempus fugit.“
Sehr richtig, dachte San. Die Zeit entflieht. Nur nicht für Wesen wie uns.
„Ich nehme nur rasch Abschied von Luna. Dann bin ich bei euch. Sag ihnen, dass ich bereits unsere Zielpersonen geortet habe.“ Sie grinste vielsagend.
Alanna legte den Kopf schief.
„Ich dachte Eure Fähigkeiten beschränken sich auf die Tage vor und nach Vollmond.“, meinte sie leise. Ihre Augen schrien mit jedem Zäpfchen nach Aufklärung. Alannas Neugier war erdrückend.
San hatte keine Lust sich jetzt in der Stille der Nacht zu einer Erklärung breit schlagen zu lassen. Sie war selig. Und Alanna war nur eine Schläferin. Es konnte warten, beschloss sie umsichtig und blockte sich innerlich ab.
„Das war alles. Geh nun.“, sagte sie etwas barscher als sie beabsichtigt hatte. Doch die Wirkung war dieselbe. Alanna ging und ließ sie in Ruhe. Sie wussten beide, wer die Autorität in Händen hielt.
„Ja, Ma’am.“, meinte die Köchin kleinlaut. Und ging ab.
San blieb allein zurück. Der letzte Tourist hatte sich eben verzogen. Umso besser für sie, dachte San und lächelte.

Der Mond ist heute wirklich wunderschön, hauchte sie und ließ sich von der Schönheit des Trabanten gefangen nehmen. Sie versank tief in Trance, während sie in Gedanken eine Hymne an die Mondin intonierte. Eine helle Sichel am Firmament.
San ließ sich fallen und stürzte in die vertraute Stille der Anderwelt. Hier waren die Geister aller Dinge Zuhause. Die Zeit existierte nicht. Es war das Reich der Schattenkönigin. Persephone.
Frieden…
Dunkelheit…
Geborgenheit….
Tod….
Leben…
Balance…

„San.“ Jemand rüttelte sie unsanft an der Schulter. Hart. Unnachgiebig.
Die Stille zerbrach in tausend Splitter und riss das Mädchen mit sich fort.
Alles verschwamm um sie herum als seien die Farben mit Wasser überschüttet worden.
San verlor die Orientierung als sie in den dunklen Zeitsturm stürzte.

Sie öffnete erschrocken die Augen und blickte hektisch um sich. Mit einem Schrei wurde sie sich der Gestalt neben ihr bewusst. Ihr Herz raste.
„Was zum…?“
Armands Blick wurde fest. „San. Komm vollends zu dir.“ Seine Hand drückte sich schmerzhaft in ihre Schulter.
San blinzelte und vertrieb hastig die letzten Fetzen Erinnerung an das Reich der Schatten. Sie war mit einem Ruck in das Hier und Jetzt zurückgekehrt.
„Was willst du?“, herrschte sie ihren Gefährten an. „Ich habe doch gesagt ihr sollt warten.“ Ihre Stimme klang gereizt und herrisch. Sie musste sie mühsam unter Kontrolle bringen. Nach einer Astralreise war sie nicht sie selbst.
„Wir warten seit drei Stunden.“, erklärte Armand sanft.
„Oh.“ Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Was hatte sie so lange im anderen Reich getrieben? Wo war die Zeit nur hin? Vielleicht hatte Alanna doch Recht. Tempus fugit – tatsächlich.

„Hast du die Mondin angerufen?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Darum ersparte sich San eine ausreichende Antwort. Auf rhetorische Fragen hatte sie noch nie eine Antwort gegeben. Sie beantworteten sich selbst.
San schwieg vielsagend und schaute auf das pechschwarze Meer hinaus. Am Bug tauchte ein Delfin aus den Wellen auf und schwamm mit der Fähre um die Wette. „Das macht Spaß!“, jauchzte er jedes Mal wenn er die Wasseroberfläche durchstieß um wie ein Pfeil erneut einzutauchen. „Das sieht man.“ San lächelte breit. Und erfreute sich an der guten Laune des Säugers. Mitgefühl war eine Tugend die nur wenige besitzen.
„San…“, setzte Armand an.
„Ich weiß was du sagen willst, Armand. Und die Antwort lautet Nein. Ich habe KEINE Probleme. Es geht mir bestens.“ Sie betonte das Wort ausdehnend, was ihren Partner noch unsicherer machte.
„Ich glaube du…“
„N-e-i-n.“
„San. Hör auf damit. Ich weiss, dass du lügst. Louis kannst du vielleicht bezaubern. Aber ich durchschaue dein Verhalten. Sag mir die Wahrheit. Warum isolierst du dich, indem du lieber hier stehst und den Mond anheulst anstatt auf Beutejagd zu gehen?“
Zuerst wollte San wegen dem >Anheulen< protestieren. Wie konnte er es wagen ihre Ethik derart zu diskriminieren? Doch sie schwieg. Diesmal betroffen. Er hatte Recht. Und sie wussten es beide.
„Ich…“, setzte sie hilflos an.
Armands strenger Gesichtausdruck ließ augenblicklich nach. Seine Züge wurden weich, als er ihre Hand nahm und einen Kuss darauf hauchte.
San blinzelte die Tränen weg, die in ihren Augen standen. Eine Welle der Zuneigung durchflutete sie, die so stark war, dass San schlucken musste aus Angst sie würde das Bewusstsein verlieren. Es war warm und feucht wie der Abdruck einer Wärmflasche auf der Haut. Angenehm. Doch brennend. Wie konnte sie es ihm nur begreiflich machen?
„Armand…“, sie seufzte tief. „Weisst du… das Leben….“ Sie konnte es einfach nicht in Worte fassen. Doch das war auch nicht nötig. Er verstand sie auch so. Verletzlich wie Glas…
Langsam lichtete sich der Wolkenschleier und gab den Blick frei auf die leuchtende Scheibe am Firmament. Es dämmerte.

„Lass uns aufbrechen. Die Sonne wird bald aufgehen.“, brach Armand die Stille. Wohlwissend, dass sie es längst gespürt hatte.
San nickte. Dankbar, dass er das Thema wechselte. Und nicht weiter in sie drang.
„Ja.“
Das Bild eines Jungen blitzte vor ihren Augen auf.
Sie erinnerte sich plötzlich, dass sie Alanna hatte wissen lassen, dass sie die Beute ausgesucht hatte. Da sie ihre Gedanken umnachtet hatte, musste sie ihren Gefährten noch ihre Wahl mitteilen.
Als hätte Armand es erahnt, fragte er: „Wen hast du erwählt?“
San lächelte. „Einen Teenager mit seinen Rowdyfreunden. 2. Etage im Spielsalon. Ihre Abiturfahrt nehme ich an.“
„Ich muss zugeben, ich bin enttäuscht. Leichte Beute für uns.“
San zuckte mit den Achseln.
„Mag sein. Aber ich fühle mich heute so träge. Etwas Abwechslung ist da ganz angenehm.“
Armand lachte tief. Es klang wie melodisches Glockengeläut, fand San.
„Ich vergaß, dass unsere Prinzessin launisch ist.“
San streckte ihm die Zunge raus. „Als ob es dich stören würde…“
„Nein.“ Sein Blick wurde ernst, was San berunruhigte. „Nein.“
„Armand?“ Sie legte ihre Hand an seine Wange. „Was ist mit dir?“ Sie machte sich Sorgen. Derlei Stimmungsschwankungen waren untypisch für ihn.
„Ich habe nachgedacht.“, sagte er unvermittelt. San zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Es geht um Louis.“
Nun war San vollends beunruhigt.
„Was ist mit ihm?“ Ihre Stimme zitterte.
Armand betrachtete sie nachdenklich. Belächelte er ihre kindliche Neugierde? Oder wusste er etwas, dass ihr verborgen lag?
„Du weisst dass er uns misstraut. Er ist….“ Eifersüchtig. „… komisch in letzter Zeit. Zurückgezogen. Anders.“
„Anders ist nicht gleichbedeutend mit >schlecht<.“, meinte San trocken. Doch sie wusste, worauf seine Andeutung abzielte.
Sie schwieg. Betroffen, ertappt, zur Kenntnis nehmend? Sie wusste es nicht zu sagen.
„Ich weiß.“, flüsterte sie schließlich. „Ich habe es seit Wochen gespürt. Seine Distanz. Seine Besorgnis. Seine Liebe. Seine Eifersucht.“ Sie seufzte verzweifelt. „Was kann ich nur tun?“ Es war paradox. Kindergarten. Unsinnig. Doch es WAR. Und es würde bleiben, wenn sich nichts änderte.
San hatte diese Disharmonie in ihrer Beziehung erfolgreich ignoriert und sein verändertes Verhalten ausgeblendet. Nun konnte sie die Augen nicht mehr länger vor der Wahrheit verschließen. Es musste etwas getan werden. Diese Unnatürlichkeit gegenüber ihr widerte sie an. Sie war nicht… er. Echt.

„Armand.“ Sie ergriff seine Hand. „Ich liebe euch beide. Das wisst ihr. Er war mein Schöpfer. Mein Herz. Der Erste. Und du….“ Sie fasste sich ein Herz. „Ich habe dich gerufen. Der dunkle Engel. Der Gelehrte. Ich wollte dich bei mir haben. Du bist mein Lehrer. Er mein Bruder. Ich will keinen von euch missen.“
Armand sah sie gequält an. „San…“
„Schschschsch.“ Sie legte einen Finger an seine seidigen Lippen. „Sag jetzt nichts.“
Schweigen.
Reden. Von Herz zu Herz.

San verstand. Sie hatten sich einander geöffnet. Sprache ohne Worte.
Er wollte also gehen. Lieber das Leid der Einsamkeit als der Vorwurf, eine Beziehung zerstört zu haben. Er liebte sie so sehr, dass er bereit war, dafür zu sterben. Die Zurückgezogenheit ist für Vampire schlimmer als der Tod.
„Weinst du?“ Seine Stimme durchschnitt die Stille wie eine Sense.
„Nein.“, schluchzte sie. Sie tat es.
Armand nahm sie in den Arm und San lehnte ihren Kopf an seinen warmen Hals. Sie atmete seinen Duft ein. Sein Leben. Sein Ich.
Sie spürte seinen Schmerz. Sein Elend, sie verlassen zu müssen. Sie hatten einander so viel gegeben. Erkenntnisse. Nähe. Nichts auf dieser Welt konnte das beschreiben.

„Geliebte.“ Seine Stimme zitterte.
Sie hob den Kopf um ihn anzusehen. Ihr Herz blutete.
„Es ist nicht für immer.“ Nur bis sich der Sturm gelegt hat. „Du weisst, dass es so am besten ist, Rehlein.“
Sie nickte. Außerstande etwas zu sagen.
Er hob ihr Kinn an und küsste sie. Innig.

Als sie sich voneinander lösten, hatte Mutter Natur das rosa Band der Morgenröte gesponnen. Es war Zeit.
„Auf ewig in meinem Herz.“ Er strich ihr eine Träne fort, die ihr über die Wange rollte.
„Auf ewig in meinem Herz.“ Sie strich ihm eine Träne fort, die ihm über die Wange rollte.
Beide lächelten.
Sie wussten, es war nicht für immer. Ihre Zeit war die Ewigkeit. Abschiede waren nur Steine auf dem Weg, die zurückkehrten, sobald man den Kreis umrundet hatte.

Er trat zurück und stieg auf die Brüstung. Sein Blick hing an ihr.
„Auf Wiedersehen, mein Herz.“
„Nicht auf Wiedersehen. Auf bald.“ Es war der Titel ihres beider Lieblingsgedichts von Sartre.
Er nickte, stieg auf die oberste Stufe, wandte sich um. Und flog davon. Ein Schatten über dem Meer.

San blieb allein zurück.
Er war fort.
Ihre Tränen waren versiegt.
Der Morgen brach an.
San kehrte dem Bug der Fähre den Rücken und betrat das Innere, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er war fort.
Fort.

Caput IV

Louis lehnte elegant und sexy zugleich an der Bar des Schiffes. Er spielte mit dem obersten Knopf seines Jackets. Und wartete.
Geduldig.

San schritt wie in Trance die Stufen der Wendeltreppe herab. Ihr Geist war umnebelt – ihr Körper stumpf. Etwas in ihr war eben gestorben. San wusste nicht zu sagen was. Aber es schmerzte.
Nie hätte ich gedacht, dass es uns gestattet ist so zu empfinden. Das Leid wird nicht leichter, wenn der Körper tot ist. Nein. Es hämmert ungebremst auf deine Seele, nun da die Hülle des Körpers durchbrochen ist. DAS ist die Hölle. Und keine flammendurchflutete Höhle außerhalb unseres Planeten.
Sie hob den Blick, als sie Louis‘ Gegenwart spürte. Ihre Blicke trafen sich.

Louis nickte. Traurig.
Zufrieden.

„Er ist also gegangen.“ Seine Feststellung war nüchtern. Doch San kam nicht umhin, das Aufflackern in seinen Augen zu bemerken. Endlich habe ich sie für mich allein.
Wenigstens heuchelte er kein Mitgefühl. Er war ehrlich. Sofern man das Verschweigen einer Lüge als ehrlich betitelt jedenfalls. San atmete tief ein. Trotzdem schwankte ihre Stimme als sie meinte: „Ja. Soeben befindet er sich auf dem Weg nach Night-Island.“ Seine Zufluchtsstätte.

Louis‘ Mundwinkel hoben sich ein wenig nach oben. San unterdrückte ein missbilligendes Knurren. Manchmal musste sie ihre animalische Energie etwas zügeln.
„Lass uns jagen gehen, mein Herz.“ Die Zärtlichkeit in seiner Stimme schnitt sich tief in ihr Fleisch. Wie konnte er nur so tun als sei nichts passiert? Armand war einmal sein Freund gewesen. Hatte die Eifersucht ihn wirklich so kalt werden lassen? Was war nur aus dem Louis geworden, den sie kannte? Sie glaubte, einen Fremden vor sich zu sehen.

Langsam -unmerklich- verneinte sie. Ihre Augen flimmerten.
Fragen in seinem Kopf.
Strenge in ihrer Haltung.
Unnachgiebigkeit.

„Mein Engel…“ Furcht schwang in seiner Liebkosung mit.
Endlich hatte er sie verstanden.
Er tat gut daran, sich um seine Zukunft zu sorgen. San hatte überzeugende Methoden ihren Unmut zu äußern. Sie bekam was sie will. Immer. Und wenn nicht… nun. Der geneigte Leser möchte sich diese Art lieber nicht vorstellen. Aus Frust kann eine Frau schlimme Dinge tun.

„Ich möchte mein Tagebuch weiter schreiben.“ Es war keine Bitte, sondern ein Befehl. Eine Ausrede, ja.
Ihr war die Lust am Jagen vergangen.

Sie lächelte traurig.
Sie drehte sich um.
Sie ging.
Sie ließ Louis mit seinem Gewissen allein.

Caput V

Es vergingen zehn Minuten.
Dann holte Louis seine Geliebte ein. Vor dem Boardrestaurant.
Sie stand am Fenster und starrte auf die schwarzen, zugezogenen Vorhänge. Ruhig, schön. Unantastbar.
Innerlich brodelte sie wie ein Vulkan.

„Okay.“ Louis schaffte es, in dieses einzige Wort allerlei Emotionen zu mischen: Neugier, Ärger, Mitgefühl, Stolz, Kompromissbereitschaft, Zorn, Unverständnis, Verständnis, Liebe.
„Lass uns darüber reden.“

Jede Faser ihres jungen Körpers schrie nach Trotz. Nach Aufbegehren.
San sah Louis‘ Leid – und verpasste ihrer Engstirnigkeit einen metaphorischen Tritt.
„In Ordnung. Reden wir.“, sagte ihre Versöhnlichkeit. Ihr Streben nach Harmonie. Und Ordnung.
Sie wies auf die Tür zu ihrem Zimmer. Abgeschieden. Dunkel. Heimisch.
Louis nickte.
„Lass uns gehen.“ Er reichte ihr galant seinen Arm.
San musste über diese charmante Geste lachen. Wie oft hatte er das schon für sie getan? Sie hatte aufgehört zu zählen. Doch sie liebte es. Das wusste er. Und sie wusste, dass er es wusste.

San hakte sich bei ihm ein. Und gemeinsam betraten sie die Kabine 18A.
Louis setzte sich auf das Ledersofa neben dem Fenster. Die Vorhänge waren herunter gelassen worden – wie sie es befohlen hatte. Sie waren sicher.

San schloss die Tür. Und lehnte sich mit dem Rücken daran.
Sie schloss für einen Moment die Augen und beschwor das Bild ihres Meisters herauf. Armand. Es konnte beginnen.
San visualisierte eine schimmernde Rüstung mit Schild. Sie war für die bevorstehende Schlacht bereit.

Komme was wolle. Der Songtext aus Baz Luhrmann’s Musical „Moulin Rouge“ fiel ihr plötzlich ein.
Sie wusste, dies war nicht nur ein Gespräch. Etwas würde sich verändern. Für immer. Das machte ihr Angst. Sie mochte keine Veränderungen.
San straffte die Schultern und schritt zielstrebig an Louis‘ Seite.