Nosferatus Kinder
Es war gegen 19 Uhr und über den beiden Freundinnen Ann und Leni erhob sich die sternenklare Vollmondnacht eines kalten Wintertages. Sie hatten den Gruselfilm „Hollow Witch“ gesehen und waren nun auf dem Weg nach Hause. Zu dieser späten Uhrzeit befanden sich kaum Leute auf der Straße. Gerade wurden die Laternen angeschaltet und über ihnen erhob sich majestätisch Orion und sah auf sie herab. Ann und Leni gingen schweigend nebeneinander, was eher untypisch war, doch der Film beschäftigte sie noch immer.
„Und, Leni, wie fandest du den Film?“, fragte Ann ihre Busenfreundin, die links neben ihr ging. Der Film hatte sie innerlich völlig aufgewühlt – wie immer. „Naja, hätte irgendwie gruseliger sein können.“, erwiderte diese ruhig und ohne die geringste Emotion. Bei solchen Dingen war Leni absolut cool, während Ann schreckhaft und abergläubisch war und jedes Mal dachte, die Figuren aus den Filmen, die sie mit Leni sah, waren wirklich. „Also ich fand ihn richtig horrormäßig.“, sagte sie also und zog sich die Jacke enger um die Schultern, denn eine eisige Kälte hatte sie erfasst. „Ich werde bestimmt davon träumen.“ Leni schüttelte darüber nur lächelnd den Kopf. Typisch Ann. Die beiden bemerkten nicht, dass zwei glühende rote Augen sie aus dem Gully beobachteten und eine düstere Gestalt leise kicherte.
Leni und Ann hatten inzwischen die Haustür des Hochhauses, in dem Ann wohnte, erreicht. Um diese Uhrzeit waren nur noch wenige Fenster hell erleuchtet und im Haus war es stockduster. Ann war gerade dabei die schwere Haustür aufzuschließen. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal zu ihrer Freundin um. „Tschüssi Leni.“, sagte sie und verschwand im dunklen Hausflur. „Bis morgen.“, rief Leni ihrer Freundin nach und machte sich dann auf den Weg zur U-Bahn Station Kaulsdorf Nord, denn sie musste noch bis Friedrichsfelde fahren.
Leni ging langsamen Schrittes durch die dunkle Seitengasse. Sie war allein und auch wenn sie nicht leicht Angst bekam, hatte sie doch ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass mich jemand verfolgt.“, dachte sie beunruhigt. Dann schüttelte sie den Kopf als wollte sie diesen Gedanken abschütteln. Nur nicht schizophren werden! Doch sie spürte deutlich die Anwesenheit einer Person in ihrer Nähe. Eine bedeutende Vampirgestalt, genannt Dracula, war ihr nämlich dicht auf den Fersen. Ein Jäger auf der Suche nach dem geeigneten Opfer…
Leni hielt es nicht mehr aus, sie drehte sich langsam um. Vor ihr stand ein blasser Mann in leuchtend roten Gewändern, die weißen und grauen Haare waren hochgetürmt. Diese Person wirkte wie eine schlechte Imitation Draculas aus einem alten Film. „Wer bist du? Und was willst du?“, fragte Leni von Angst ergriffen. „Ich bin Dracula und werde dich zu meiner Sklavin machen.“, erwiderte der Fremde ruhig in einem tiefen Bass. Leni schluckte. Aber das konnte doch nicht sein. Vampire existierten nicht, das war unmöglich! „Oh shit!“, entfuhr es ihr. Es war nicht mehr als ein Flüstern. Das war nicht wahr. Sie musste träumen. Oder waren Vampire Wirklichkeit?
Fürst Dracula beugte sich über den blanken Hals von Leni und sie spürte seine spitzen Eckzähne in ihrem Fleisch; er trank ihr warmes Blut. „Lass mich in Ruhe!“, sagte Leni mit letzter Kraft. „Du brauchst dich gar nicht zu wehren.“ , war die Antwort. Doch Leni bekam sie nicht mehr mit – sie war bewusstlos.
Am nächsten Morgen machte sich Ann ahnungslos auf den Weg zur Schule. Es war ein sonniger Tag und Ann stempelte Lenis Abwesenheit damit ab, dass ihre Freundin verschlafen hatte. Doch als Leni in der großen Hofpause immer noch nicht da war, machte sich Ann ernsthafte Sorgen. „Ihr wisst nicht zufällig was mit Leni ist, oder?“, fragte sie Anja und Claudia, die neben ihr standen. „Nein.“, meinte Anja ehrlich. „Och, hat sie dich nicht abgeholt?“, fragte Claudia spöttisch, weswegen Ann sie mit einem bitterbösen Blick bedachte. Claudia verstummte sofort. Mit einer wütenden Ann war nicht zu spaßen. Ann versuchte sich zu beruhigen. Sicher war alles in Ordnung. Doch sie konnte sich nichts vormachen. Ihr blieb ein ungutes Gefühl. Hoffentlich war Leni nichts Schlimmes passiert!
Gerade ertönte das Klingelzeichen der letzten Stunde. Schulschluss. Ann ging gedankenverloren die Treppen des Schulgebäudes hinunter. „Merkwürdig.“, dachte sie im Schulflur. Das Nichtkommen von Leni beschäftigte sie immer noch. „Am besten ruf ich mal bei ihr Zuhause an.“, sagte sie halblaut und machte sich auf den Weg nach Hause.
Ann wählte Lenis Nummer. Freizeichen. „Ja?“ Es war die Stimme von Lenis Mutter. Sie klang als hätte sie die ganze Nacht geweint. „Hier ist Ann. Können Sie mir sagen was mit Leni ist?“ Stille. Dann ein leises Schluchzen. „Sie ist seit gestern spurlos verschwunden.“ „Was? Oh nein…“ Es war als hätte man Anns Herz mit einem Pfeil durchbohrt. Verschwunden! Dabei war sie gestern noch mit mir im Kino. Ann hörte Lenis Mutter leise weinen. „Ihr Vater sucht gerade nach ihr.“, sagte Lenis Mutter heiser. „Ich werde mich natürlich sofort auf die Suche machen.“, sagte Ann inbrünstig. Das war sie Leni und ihrer Mutter schuldig. Außerdem fand sie das Verschwinden ihrer Freundin mehr als merkwürdig. Wenn da nicht mal mehr dahintersteckt., dachte sie. „Das wäre nett.“ hauchte ihre Mutter und schnaubte. „Machen Sie sich keine Sorgen.“, sagte Ann und fasste nach ihrem Pentagramm, das an einer Kette um ihren Hals hing. „Was auch immer ihr passiert ist, ich werde es aufklären.“ Mit diesen Worten legte sie auf.
Währenddessen …
Es war ein dunkles Verlies. Leni lag zusammengekauert an einer feuchten Steinwand. Ihre Hände hingen an Metallketten, deren Enden an die Wand geschraubt waren. Sie fühlte sich schwach und spürte warmes Blut an ihrem Hals, aber sie lebte. Vorerst.
Langsam öffnete sie die Augen; es kostete sie viel Kraft. Der Kerker, in dem sie lag, war kaum beleuchtet. An den hellen Steinwänden hingen zu zwei Seiten Pechfackeln die rußten. Der Kerker war quadratisch und gerade vor ihr lag eine schwere Holztür mit Eisenbeschlag. Sie war geschlossen. Leni wusste mit einer Klarheit die sie erschreckte, dass sie außerdem verschlossen war. Sie lag allein in diesem dunklen Verlies. Da quietschte die Tür und Dracula betrat den Kerker. Er trug noch immer die leuchtend roten Gewänder. „Wie ich sehe bist du wach. Gut. Ich stelle dich nun vor eine Wahl die dir noch nie ein Mensch ermöglicht hat.“ Er hockte sich zu Leni hinunter und zwang sie ihm in die roten, unwirklichen Augen zu sehen. „Ich lasse dir die Wahl.“, wiederholte er. „Entweder du entscheidest dich an meiner Seite ein Leben als Untote zu führen, du und ich als herrschendes Vampirpaar, oder du…“ Er ließ das Ende unausgesprochen. „Oder ich sterbe.“, ergänzte Leni bitter. „Ist es nicht so?“, fragte sie ohne Emotion. „Ich würde dich als Mitternachtsimbiss verwenden, allerdings wäre das sehr schade. Du bist zu einem Leben als Herrscherin geboren, Leni. Überlege es dir.“ Mit diesen Worten verschwand er so schnell, wie er gekommen war aus der massiven Holztür. Leni blieb allein zurück. Was sollte sie nur tun? Sie musste sich entscheiden, ob sie wollte oder nicht.
In der Zwischenzeit…
war Ann damit beschäftigt, herauszufinden wie und wo Leni verschwunden war. Sie überlegte, wo sie Leni zuletzt gesehen hatte. Vor ihrer Haustür. Danach ist sie wohl mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Aber sie ist nicht zu Hause angekommen. Merkwürdig. Was auch immer ihr passiert ist, es passierte kurz vor ihrer Haustür., dachte Ann. Sie stand vor ihrem Wohnhaus und ging exakt den Weg den Leni wahrscheinlich gegangen war. Vor der U-Bahn Station Kaulsdorf Nord blieb sie stehen. Es ist unwahrscheinlich das sie jemand in der U-Bahn angegriffen hat., dachte sie während sie die Treppen zum Bahngleis hinunterstieg. Das würde kein gerissener Mensch tun. Also befand sie sich wahrscheinlich schon in Lichtenberg, als es passierte. Gut, dann werde ich mich dort mal umsehen., überlegte sich Ann und stieg in die ankommende Bahn.
Der Seitenweg vor Lenis Haus sah normal aus, fast friedlich. Doch Ann ließ sich davon nicht täuschen. Sie suchte den schmalen Weg Schritt für Schritt ab. Sie fand nichts Außergewöhnliches. Doch was war das? Zwei Schritte vor Ann war ein kleiner roter Fleck auf dem Boden. Ann kniete sich hin und analysierte ihn. Sie rieb die Flüssigkeit zwischen zwei Fingern und roch vorsichtig daran. Ohne Zweifel, es war Blut. Ann betete, dass es nicht Lenis war. Oh Freundin, was haben sie dir nur angetan?
Zur selben Zeit im dunklen Verlies…
Leni hatte ihre Entscheidung getroffen. Der Vampir beugte sich über sein Opfer und tötete es durch einen Biss in den Hals. Doch der leblose Körper, in dem nicht ein Tropfen Blut mehr floss, war nicht der Lenis.
Ann hatte ihre Recherchen beendet und machte sich auf den Nachhauseweg. Sie fuhr mit der fast leeren U-Bahn bis zur Station Kaulsdorf Nord. Gedankenverloren stieg sie aus. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? War das Blut von Leni? Und wenn ja, was sollte sie ihren Eltern sagen? Ann wusste nicht was sie denken sollte. Sie lief den Weg nach Hause, doch sie bemerkte es nicht. In der Cecilienstraße überkam sie plötzlich ein ungutes Gefühl und sie kam wieder zu sich. Sie fühlte sich verfolgt. Angst erfüllte sie. Was, wenn die Entführer von Leni es nun auf sie abgesehen hatten?
Ann verschnellerte ihr Tempo. Nur noch ein paar Meter und sie war gerettet. Da spurte Ann einen warmen Atem auf ihrem Nacken. Sie blieb stehen. Eine Gänsehaut war über ihren zitternden Körper gekrochen. Langsam drehte sie sich um. Und vor ihr stand… Leni! „Leni, aber wie ist das möglich?“ Ihre Freundin, die jetzt blasser aussah, lächelte. „Es ist alles in Ordnung Ann, mir geht’s gut.“ Doch ihre Augen strahlten nicht, wie sonst wenn sie lächelte, sie schienen leer. Ann wurde es unheimlich. Was war nur mit ihrer Freundin passiert? Jetzt wirkte sie so… so anders. Leni lächelte immer noch. „Hab keine Angst.“, sagte sie ruhig. „Ich werde dir nicht wehtun.“ Sie stand dicht vor ihr. Ann konnte die kleinen Pünktchen in ihrer Iris sehen. „Was… was hast du mit mir vor?“ Leni hob eine Hand und legte sie Ann auf die Schulter. „Du bist meine Freundin, Ann.“, sagte sie. „Du bist meine Freundin.“ Und sie biss ihr mit den spitzen Eckzähnen in den Hals. Ann sank zusammen, sie hatte das Bewusstsein verloren.
Als Ann wieder zu sich kam, lag sie in einem dunklen Verlies, angekettet an die feuchte Steinmauer. Ihr Kopf dröhnte und sie fühlte sich merkwürdig. So als hätte Leni etwas mit ihr gemacht, von dem Ann nicht wusste was. Sie sah sich um, doch ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Neben ihr lag Etwas, das aussah wie ein Hügel. Doch Ann erkannte, dass es eine Person war. Eine tote Person. Sie unterdrückte einen Schreikrampf. Wer lag da neben ihr in diesem dunklen Kerker? Sie wagte nicht darüber nachzudenken. Da öffnete sich die große Holztür gerade vor ihr. Leni trat herein. Sie anders gekleidet als vorhin: Sie trug nur die Farben Schwarz und dunkles Grau. Auffällig war ihr Oberteil. Es sah aus wie eine Tunika, war am Saum allerdings schief geschnitten und hatte Trompetenärmel. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen leer mit einem tückischen Blitzen. Außerdem hatte sie überall Spinnen und Spinnennetze an sich. Es sah gruselig aus.
Leni trat zu Ann und hockte sich zu ihr. „Ich hoffe du hast gut geschlafen?“, fragte sie freundlich. Es war kaum zu glauben, dass sie ihre Freundin wenige Stunden zuvor fast getötet hatte. Ann nickte. Komischerweise fühlte sie sich nun frisch und munter. „Ich… wie bist du… ich meine… du bist doch…?“ Leni lächelte und setzte sich zu ihrer Freundin. „Ja, ich bin ein Vampir. Dracula dort…“ Sie zeigte auf die Leiche neben Ann. „… hat mich gebissen. Er stellte mich vor die Wahl: Tod oder ein Leben als Untote. Nun, ich habe mich entschieden. Ich dachte ich könnte ihn so täuschen. Er vertraute mir, weil ich unschuldig war und ich tötete ihn im richtigen Moment. Nun bin ich der Obervampir – mit all seiner Macht.“ Da kam Ann ein Verdacht. „Wozu bin ich dann hier? Du willst mich doch nicht TÖTEN?“ Sie spuckte das Wort förmlich aus. Leni lachte und legte Ann die Hand auf die Schulter, sodass eine dicke schwarze Spinne, die an Lenis Haaren hing, über ihre Hand und auf Anns Schulter lief. Ann schauderte. Spinnen hatte sie noch nie gemocht. „Nein, wenn ich dich töten wollte, hätte ich es schon längst getan.“, sagte sie und sah Ann fest in die Augen. „Ich kenne dich.“, sagte sie dann. „Ich wette, du weißt schon längst was ich mit dir vorhabe.“ Ann sah zu Boden. Also war es doch wahr. „Ja.“, antwortete sie leise. “Mich dürstet es nach Blut.“
Die Kirchturmglocke läutete. Es war 20 Uhr in einer dunklen Seitengasse. Das Mädchen hatte keine Chance. Sie war den beiden Vampiren hilflos ausgeliefert. „Bitte.“, flehte sie. „Lasst mich laufen.“ Ann und Leni wechselten einen Blick miteinander und es sah so aus, als würden sie tatsächlich darüber nachdenken. Doch dann lachten sie und machten sich über den Körper des jungen Mädchens her. Wenige Minuten später fiel er leblos zu Boden, ohne einen Tropfen Blut in den Adern. Doch das sollte nicht das letzte Opfer des furchtlosen Vampirgespanns gewesen sein.
Lenis Vater, nun ebenfalls Vampir, hatte eine Sonnenmilch erfunden die es erlaubte, dass Leni und Ann auch am Tag ihr Unwesen treiben konnten. Das war nicht so einfach, denn die Polizei war inzwischen auf die Todesfälle aufmerksam geworden und suchte nun, unter dem Namen „Nosferatus Kinder“, nach den Tätern. Natürlich glaubten sie nicht an Vampire, aber ihnen waren die Bissstellen am Hals der Opfer aufgefallen. Leni und Ann störte das allerdings wenig. Sie wussten, dass sie niemals verdächtigt werden würden. Und so trieben sie weiter ihr Unwesen in den Straßen Berlins, wobei sie allerdings darauf achteten, nicht von ihren Freunden und Verwandten entdeckt zu werden. Schließlich waren sie, im Geiste, schon zwei Monate tot.
Eines Tages, es war Mitternacht und die beiden Vampirfreundinnen saßen im Kerker und langweilten sich – die nächtliche Jagd war bereits abgeschlossen, fragte Ann Leni: „Sag mal, warum erschaffen wir nicht noch mehr Vampire? Mir ist langweilig.“ Leni erhob sich elegant von ihrem Sitzplatz und kam auf Ann zu. „Das Thema hatten wir doch schon. Ich hab dir doch gesagt, dass es zu gefährlich wäre. Das wäre nur eine Person mehr, die es auf meine Macht abgesehen hätte. Und darauf habe ich nun mal keinen Bock.“ Ann, die auf einem antiken Holztisch saß und die übereinander geschlagenen Beine vom Tisch baumeln ließ, fuhr sich durch die krausen Haare. „Immer geht’s dir nur um Macht. Ist ja öde. Darf ich mir nicht wenigstens ein Spielzeug machen?“ Leni sprang zu Ann auf den Tisch. „Aber sicher. Aber du musst dich darum kümmern.“ Ann fuhr sich mit der Zunge über die weißen Eckzähne. „Das werde ich.“
Der Junge, den Ann auserwählt hatte, hieß Tilman und war leider zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, als er der Vampirin in die Arme gelaufen war. Ann hatte ihn allein am sogenannten Drachenberg vorgefunden und sofort beschlossen ihn als Diener der Untoten zu bestimmen. Tilman war ein Junge stattlicher Erscheinung. Niemand Außergewöhnliches. Doch Ann spürte, dass er perfekt zu sein schien. Er strahlte etwas Starkes aus was sie anzog. So machte sie ihn kurzerhand zu ihrem Diener. Das Ritual war schnell durchgeführt: Ann biss ihn in den Hals, achtete aber darauf, dass er nichts von ihrem Blut schluckte, schließlich wollte sie nicht, dass er ein Vampir wurde. Nach dem Ritual war der unschuldige Tilman ein Gefangener zwischen zwei Welten. Er war nicht mehr sterblich, aber er war auch nicht unsterblich wie die Untoten. Sein einziger Lebenszweck war es, Ann zu dienen.
„Das also ist er.“, bemerkte Leni mit einem abschätzenden Blick auf die Person vor ihr. Tilman lag in einem abgetrennten Raum des riesigen Kerkers in einer Zelle. Noch war er bewusstlos und wusste nichts von dem ‚Glück‘ das ihm zuteil wurde. Leni betrachtete das neue Spielzeug durchdringend. „Nun ja, mein Geschmack ist er nicht.“ Ann, die neben Tilman stand, strich ihm durchs kurze, braune Haar. „Ich finde ihn perfekt.“ Ihre Stimme verriet leichte Verärgerung über Lenis Äußerung. „Und nun entschuldige uns, er wacht jeden Moment auf.“ Leni lächelte und strich Ann leicht über die blasse Wange. „Tut mir leid, Schwester.“, sagte sie. „Aber gib Acht, ja? Ich habe nur dich. Und ich will nicht, dass dir was passiert.“
Langsam öffnete Tilman die Augen. Das erste was er erblickte, war Ann. Sie stand in seiner Zelle und betrachtete die vielen Waffen, die an der Steinwand hingen. Die Zelle war einst eine Folterkammer gewesen. Als Tilman die Augen aufschlug, drehte sie sich mit einem Lächeln zu ihm um. „Hi. Ich hoffe, dir geht es gut.“ Tilman öffnete den Mund, um zu fragen wo er sei, aber er konnte es nicht. Er saß einfach da und starrte das Mädchen vor ihm an. Langsam kam sie auf ihn zu. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Sie wusste, dass er sie anbetete, sie verehrte. Das war auch der Sinn des Rituals. „Nun, was ist?“ Sie kniete zu ihm nieder. „Ich stehe zu Euren Diensten, Meisterin.“ Sie lächelte. Mehr wollte sie gar nicht hören. „Also gut. Um mir zu beweisen wie treu ergeben du mir bist, tust du alles was ich sage?“ Er nickte heftig. „Gut.“ Sie lächelte reizend. „Und nun komm, die erste Prüfung naht.“
„Hast du auch alles behalten?“ Tilman nickte zur Bestätigung. „Ja, Meisterin. Ich halte Ihnen die Störenfriede vom Hals während sie speisen. Und dann trage ich die Leute in unser Versteck damit Ihr später noch trinken könnt.“ Ann nickte. „Du hast es verstanden. Und wenn Probleme auftauchen, verschwinden wir.“ „Ja Meisterin.“ Ann wandte sich Leni zu, die neben ihr stand. „Wir können.“ Leni lächelte ihr kurz zu und öffnete dann den Gullydeckel über ihr. Er führte sie an die Erdoberfläche. Nachdem alle an der Leiter hochgeklettert waren, ließ Leni den Deckel fallen. Schließlich wollte sie nicht, dass jemand ihr Versteck fand. Sie standen nun auf dem Alexanderplatz. Die beiden Vampire sahen sich um. Kein geeignetes Opfer zu sehen. „Vielleicht sollten wir mehr östlich gehen. Dort steigen oft Feten.“ Leni sah in Richtung Osten. „Okay, gute Idee.“
Das Pärchen hatte keine Chance zur Flucht. Die drei Gestalten standen plötzlich vor ihnen. „Endlich etwas Nahrhaftes.“, murmelte Ann und leckte sich die Lippen. Der Junge, etwa Achtzehn, hatte sich schützend vor seine Freundin gestellt. „Lasst sie in Frieden, nehmt mich dafür.“ Ann und Leni sahen einander an. „Gut, wenn du es willst.“ Leni sprang vor ihn und biss ihm in den Hals. Er sank zusammen. Das Mädchen schrie vor Angst auf. „Ihr Mörder! Lasst ihn in Ruhe!“ Ann sah sie zornig an. „Halt den Mund!“, fauchte sie und zerrte das Mädchen brutal an den Haaren. „Du kannst ihm nicht mehr helfen.“ Leni ließ eben den leblosen Körper in ihren Armen fallen. „Cornelius! Nein!“ Das Mädchen schrie wie am Spieß. „Beruhige sie endlich.“, bestimmte Leni, denn sie befürchtete dass unerwartet Hilfe auftauchen könnte. Ann biss sie in den Hals und das Mädchen wurde bewusstlos. „Trag sie, Til.“ Tilman hob die blutigen Körper auf. Die zwei Untoten und ihr Diener wandten sich zum Gehen, doch da tauchten plötzlich drei Männer vor ihnen auf – es waren Polizisten. „Hey, was macht ihr da? Lasst sofort die Leute frei!“ Ann und Leni sahen sich an. Sie hatten es befürchtet. „Lass uns kämpfen.“, flüsterte Ann, sodass es nur Leni hören konnte. In den drei Jahren ihres Lebens als Untote hatten sie sich selbst die Kampfkunst beigebracht.
Der erste Polizist hatte inzwischen eine Pistole gezogen. „Lasst die Leute frei oder ich schieße!“, drohte er. Doch Leni stürmte auf ihn zu und kickte ihm die Waffe aus der Hand. Dann trat sie ihn hart in den Bauch. Der Polizist krümmte sich vor Schmerz und Leni schlug ihn brutal ins Gesicht, damit er bewusstlos wurde. Inzwischen hatte sich Ann dem zweiten Polizisten zugewandt. Er wollte sie schlagen, doch sie duckte sich rechtzeitig. Dann hob sie ihr Knie und trat es mit voller Wucht in seine empfindlichste Stelle. Er sackte zusammen. Auf allen Vieren lag er vor ihr. Da griff er plötzlich nach ihrem Bein und zog daran. Ann fiel zu Boden und schlug hart auf. Sie rappelte sich wütend auf und hob den Arm. Dann schlug sie ihm mit der Handfläche ins Genick. Der Polizist fiel um wie ein Stein. Er hatte das Bewusstsein verloren. Der dritte Polizist war allerdings stärker. Er war auf den Angriff der beiden Vampire gefasst. „Til.“, befahl Ann. „Halt ihn fest.“ Der Diener ließ die beiden Körper fallen und kam zu ihnen. Er baute sich vor dem Polizisten auf boxte ihm ins Gesicht. Der Schlag war so hart gewesen, dass er wankte. Tilman nahm seine Arme und kreuzte sie hinter seinem Rücken. Der Polizist konnte sich nicht mehr rühren – er war besiegt. Ann trat vor ihn. “Das ist für deinen Kollegen.“, sagte sie zornig und schlug ihn mit voller Kraft in den Brustkorb. Der Polizist stöhnte und wurde ohnmächtig. Tilman ließ ihn los und hob die Körper der Jugendlichen auf. „Lasst uns abhauen.“, bestimmte Leni und sie verschwanden im Dunkel der Nacht.
„Warum bist du nicht eher eingeschritten?“, schleuderte Ann ihrem Gehilfen entgegen. „Wolltest du uns umbringen?“ „Aber… “ „Nichts aber!“, unterbrach Ann ihn. „Du bist unwürdig. Ich hätte dir nie vertrauen sollen!“ „Aber Meisterin,“ flehte Tilman. „Bitte verzeiht mir. Ich… ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Aber Ihr hättet es doch auch allein geschafft, Ihr seid doch so stark.“ Knall! Das war eine heftige Ohrfeige gewesen. Til rieb sich die gerötete Wange. „Was… was habe ich getan?“ Ann funkelte ihn böse an. „Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst.“, sagte sie scharf. „Ich bin zwar stark, aber was nützt mir ein Gehilfe der sich meinen Befehlen widersetzt? Es tut mir leid Til, aber du hast eine zweite Chance nicht verdient.“ In den blauen Augen des Dieners glitzerten Tränen. „Bitte nicht,“ flehte er. „Verzeiht mir.“ Er fiel auf die Knie und sah sie bittend an. „Ich will Euch nur dienen, bestraft mich bitte nicht.“ Ann sah ihn an. „Du machst es nur noch schlimmer.“, sagte sie ruhig. „Jetzt hast du dir deine faire Chance eines leichten Todes vertan.“ Tilman brach in Tränen aus. „Nein Herrin, bitte verschont mich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“, sagte sie bestimmt. „Leni!“ Leni erschien im Rahmen der Holztür.
„Ja, Freundin?“ „Kümmere dich bitte um diesen erbärmlichen Jammerlappen. Ich kann seinen Anblick nicht mehr ertragen. Quäle ihn ruhig, er hat es verdient.“ meinte sie verachtend. „Würdest du das für mich tun?“ fügte sie noch lächelnd hinzu. Leni erwiderte ihr Lächeln und stellte sich neben Ann. „Mit Vergnügen.“, sagte sie. „Verlass dich auf mich.“
Als Ann nach drei Stunden die Zelle von Til betrat, fand sie das Grauen vor. Leni hatte es ihm wahrlich nicht leicht gemacht. Er war an die Wand gefesselt und dann gepeitscht worden. Doch dann hatte sie es noch fieser gemacht: Leni hatte ihn zum Vampir gemacht und ihn dann hängen lassen, bis die Umlaufbahn der Sonne ihn langsam getötet hatte. Als Ann zu ihr trat, war von Tilman nur noch ein Staubhaufen übrig. „Gut gemacht Freundin,“, sagte sie. „Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lässt.“
Die beiden Vampire führten weiter ein Leben ohne Gefahren. Doch eines Tages änderte ein Zwischenfall dies schlagartig: Es war ein schöner Sommertag und die beiden Freundinnen Leni und Ann waren auf Beutejagd. Wie üblich bevorzugten sie abgelegene und verlassene Orte. Leni hatte ein altes Haus am Rand der Stadt entdeckt und die beiden waren unterwegs, um ihren Durst zu stillen. Dort angekommen wartete allerdings eine Überraschung auf sie. Einer der Polizisten den sie voriges Jahr fast getötet hatten, ging dort auf Streife und entdeckte die beiden Vampire. Das an sich wäre kein Problem gewesen, aber er forderte Verstärkung an, ehe sie ihn überwältigen konnten. So blieb Leni und Ann nur die Möglichkeit zur Flucht. Sie flüchteten kurz bevor die anderen Streifenwagen ankamen.
„Das war vielleicht knapp.“, meinte Ann in ihrem Versteck. „Noch ein paar Minuten und wir hätten ein Problem gehabt.“ „Wir konnten ja fliehen.“, beruhigte Leni sie. „Aber wir können doch nicht ewig davonlaufen! Außerdem werden sie jetzt verstärkt überwachen. Mann, warum musste dieser Polizist auch nur da sein?“ Ann wanderte im Raum herum. „Es gibt nur eine Variante die uns noch bleibt, sonst kriegen sie uns früher oder später.“ „Und die wäre?“ Ann blieb stehen und sah ihre Komplizin verschwörerisch an. „Das einzige was wir schon die ganze Zeit tun: Flucht.“
„Was für ein schöner Ort.“ Leni trat vor ihre Steinhütte in den westlichen Highlands. Es war eine fantastische Sicht: Vor ihr die Weite Schottlands, und über ihr der wolkenlose Himmel. Ann trat neben sie. „Ich sagte dir doch es sei eine gute Idee.“, meinte sie. „Und nun lass uns anstoßen. Ein paar Kilometer entfernt liegt Plockton – dort ist heute Erntefest.“ Leni lächelte sie an. „Dann mal los. Schließlich haben wir nicht ewig Zeit.“ Ann stimmte fröhlich in ihr Lachen ein und die beiden Freundinnen machten sich auf den Weg.“
Ann schloss den Einband des alten Buches. Es war dunkelbraun und hatte den Titel „Nosferatus Kinder“. Leni, die zu ihren Füßen saß, lächelte sie an. „Ich höre unsere Geschichte immer wieder gern.“, sagte sie. Ann lächelte ebenfalls und entblößte damit ihre spitzen weißen Eckzähne. „Ja ich auch,“ sagte sie, „Mal sehen wie sie in den nächsten paar Jahrhunderten weitergeht…“